Die Verlorenen von New York
dort fand?
In diesem Moment wurde ihm klar, dass solche Gedanken und Erinnerungen an Menschen, die aus ihrem Leben verschwunden waren, doch auch auf alle anderen einstürmen mussten, die hier mit ihm auf den 11 -Uhr- 30 -Bus warteten oder auf sonst irgendeinen Bus. Kein Wunder, dass niemand etwas sagte. Schweigen und die Regeln befolgen, das war der einzige Schutz vor der Trauer.
Irgendwann durften sie schließlich einsteigen. Bus Nummer 22 , merkte er sich. Er nannte dem Fahrer seinen Namen und erhielt ein Ticket mit der Nummer 33 . Er suchte sich einen Platz am Gang, neben einer korpulenten Frau, die unablässig eine Packung Taschentücher in ihren Händen knetete.
»Hat jeder von Ihnen ein Ticket erhalten?«, fragte der Fahrer vor der Abfahrt.
Alle bestätigten das.
»Und auch die Liste mit den Regeln?«
»Ja«, antworteten wieder alle.
»Halten Sie sich genauestens an die Vorschriften«, schärfte ihnen der Fahrer ein. »Bleiben Sie dicht beieinander, wenn wir dort sind. Gott sei mit Ihnen.«
Alex warf einen Blick in die Runde. Er schien hier der Jüngste zu sein, aber es gab noch ein paar andere, die er auf Anfang zwanzig schätzte. Da nur eine Person pro Familie zugelassen war, kannten sich die Fahrgäste untereinander nicht. Manche beteten, andere blickten starr vor sich hin oder sahen aus dem Fenster. Wieder andere hatten die Augen geschlossen, und einige weinten.
Vor dem Fenster huschten die Wohnhäuser am Riverside Drive vorbei, als der Bus den West Side Highway hinauffuhr. Die Gebäude wirkten solide, als könnte sie so schnell nichts zum Einsturz bringen. Als sie an der 88 th Street vorbeikamen, hätte Alex am liebsten gefragt, ob er aussteigen könne, aber er widerstand der Versuchung. Er kannte die Regeln und wusste, was von ihm erwartet wurde.
Einige Zeit später hielt der Bus auf dem Stadion-Parkplatz und die Fahrgäste wurden aufgefordert, schön der Reihe nach auszusteigen, ihre Tickets bereitzuhalten und sich Standort und Nummer ihres Busses zu merken. Alex stieg aus und zeigte sein Ticket vor. Von außen sah das Yankee-Stadion so aus wie immer. Als Kind hatte er sich hier ein paarmal mit Papá und Carlos zusammen ein Spiel angeschaut, hatte auf der Freitribüne gesessen und geschimpft und gejubelt und gegessen, voller Stolz, mit dem Vater und dem großen Bruder dort zu sein. Bei einem der Spiele – da war er wohl neun oder zehn – hatten die Yankees in der letzten Runde ziemlich weit zurückgelegen, bis ein Spieler mit einem einzigen grandiosen Schlag die Führung geholt und das Spiel entschieden hatte. Alex hatte sich als Zeuge eines historischen Moments gefühlt und war völlig aus dem Häuschen gewesen.
»In einer Reihe aufstellen. Nicht herumlaufen«, sagte der Beamte. »Immer in der Reihe bleiben. Nicht herumlaufen. Wer seinen Platz verlässt, wird nicht eingelassen. Immer in der Reihe bleiben. Nicht herumlaufen.«
Alex blieb in Habachtstellung stehen, als wäre diese Haltung der Beweis dafür, dass er keiner von denen war, die aus der Reihe tanzten.
Zentimeterweise rückte die Schlange zum Eingang vor. Zwei Frauen gingen die Reihe entlang, die eine hielt eine Dose Mentholbalsam in der Hand, die andere verteilte Atemschutzmasken und Spucktüten.
»Reiben Sie sich den Balsam unter die Nase«, wies die erste Frau sie an. »Gegen den Geruch.«
»Und tragen Sie unbedingt einen Mundschutz«, sagte die andere. »Setzen Sie ihn am besten gleich auf, und nehmen Sie ihn nur ab, falls Sie sich übergeben müssen. Dazu benutzen Sie bitte diese Tüte, danach setzen Sie den Mundschutz wieder auf. Werfen Sie die Tüte nicht irgendwohin, sondern nehmen Sie sie mit zum Ausgang.«
Der Mentholgeruch war stark. Die Leute mit ihren Schutzmasken sahen seltsam aus, wie eine Abordnung von Chirurgen, die aus Versehen vor dem Baseballstadion gelandet war. Alex erinnerte sich, wie seine Mutter ihnen einmal einen Mundschutz gezeigt und erklärt hatte, als OP -Assistentin müsse sie auch so einen tragen. Hätte sie nicht den Ehrgeiz gehabt, das Familieneinkommen aufzubessern, hätte sie niemals diese Ausbildung gemacht, und dann hätte das Krankenhaus in Queens sie auch niemals dringend zur Arbeit gerufen und sie wäre niemals in die U-Bahn Linie 7 gestiegen und Alex müsste jetzt nicht vor dem Yankee-Stadion stehen, mit Mentholbalsam unter der Nase.
»Denken Sie daran, immer in der Reihe zu bleiben«, rief eine Stimme durch ein Megafon. »Sollten Sie feststellen, dass jemand medizinische Hilfe
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