Die Verlorenen von New York
für diese Fahrt ins Yankee-Stadion angemeldet, um ausgerechnet dort nach seiner Mutter zu suchen, die doch aller Wahrscheinlichkeit nach gerade in Queens bei der Arbeit war. Bis Donnerstag war sie sicher längst wieder zu Hause. Was hatte ihn bloß auf die Idee gebracht, sie könne tot sein – eine namenlose Tote in einer provisorischen Leichenhalle?
Aber egal. Wenn Mamá vor Donnerstag nach Hause kam oder anrief, würde er eben nicht hinfahren. Sollten sie bis dahin aber tatsächlich noch nichts von ihr gehört haben, musste er eben nach ihr suchen.
Plötzlich fiel Alex ein, dass er ja verrückt war, nicht gleich auch noch bei seinem Vater anzurufen – egal, was das kosten würde. Er fand das Adressbuch seiner Mutter und wählte Nanas Nummer.
»Gespräche nach Puerto Rico können zurzeit leider nicht vermittelt werden. Wir bitten um Verständnis.«
Das hatte nichts zu bedeuten. Irgendwann wären die Leitungen nach Puerto Rico wieder frei, und dann würde er mit Papá sprechen.
Dafür brauchte es nur ein bisschen Zeit. Zeit und ein Wunder.
Montag, 23 . Mai
Am Vormittag um elf war der Strom plötzlich wieder da. Bri und Julie zankten sich prompt wieder um die Fernbedienung, nur um festzustellen, dass wegen des nationalen Trauertags auf allen Kanälen nur Gedenkgottesdienste übertragen wurden, mit Predigten und Chorälen und Politikern.
»Legt doch eine DVD ein«, schlug Alex vor. »Ich geh mal eine Runde spazieren.«
Er verließ die Wohnung, während seine Schwestern noch darüber verhandelten, welchen Film sie anschauen wollten. Hoffentlich würden sie sich auf etwas Lustiges einigen.
Alex schlenderte gemächlich in Richtung Kirche – wohin hätte er auch sonst gehen sollen? Die meisten Geschäfte waren noch immer geschlossen, aber er nahm an, dass sie morgen, nach dem nationalen Trauertag, wieder öffnen würden.
In der Kirche war es ziemlich voll, aber Pater Franco war, wie Alex hörte, in seinem Büro. Fünf Leute warteten schon vor seiner Tür. Alex hatte das Gefühl, eine Nummer ziehen zu müssen, aber offenbar galt hier eine Art Ehrenkodex und alle achteten gemeinsam darauf, dass die richtige Reihenfolge eingehalten wurde. Zwei Frauen weinten leise vor sich hin und ein Mann starrte unablässig auf seine Schnürsenkel, als warte er darauf, dass sie sich von selbst lösen würden.
Eine Stunde später – sechs Leute waren neu hinzugekommen – war Alex an der Reihe. Pater Franco saß, unrasiert und ohne Jackett, hinter einem Schreibtisch voller Akten.
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Pater«, sagte Alex. »Sie haben sicher sehr viel zu tun.«
»Bitte, setz dich«, sagte Pater Franco. »Du bist einer der Söhne von Isabella Morales, nicht wahr?«
»Ja, Pater«, sagte Alex. »Alex Morales.«
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Pater Franco. »Ich habe sie in den letzten Tagen nicht gesehen.«
»Wir wissen nicht, wie es ihr geht«, sagte Alex. »Sie ist am Mittwoch zur Arbeit gefahren, und seitdem haben wir nichts von ihr gehört.«
Pater Franco verzog schmerzvoll das Gesicht. »Solche Geschichten höre ich nun schon die ganze Woche. Kann ich irgendetwas für dich oder deine Familie tun?«
»Ich hoffe es«, sagte Alex. »Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Es geht um meinen Vater. Er ist Anfang letzter Woche zur Beerdigung meiner Großmutter nach Puerto Rico geflogen, und wir konnten ihn bisher nicht erreichen. Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht Genaueres über Puerto Rico wissen, über die Lage dort.«
»Wo hält er sich denn auf?«, fragte Pater Franco.
»In Milagro del Mar«, erwiderte Alex. »Auf halber Strecke zwischen San Juan und Fajardo, an der Nordküste.«
Pater Franco nickte. »Ich rufe mal im Büro der Diözese an«, sagte er. »Vielleicht haben die irgendetwas von der Diözese in San Juan gehört.« Er wählte eine Nummer und lächelte, als jemand abhob. »Ja, hallo, hier ist Pater Michael Franco von St. Margaret’s. Ich bräuchte Informationen über eine Stadt in Puerto Rico, Milagro del Mar. An der Nordküste, östlich von San Juan.« Er sah Alex an. »Östlich stimmt doch, oder?«
»Ja, Pater«, sagte Alex. Er hatte die Fäuste so fest geballt, dass ihm die Fingernägel in die Handfläche schnitten.
»Ja, ja, verstehe. Ja, ich bleib dran.« Der Pater legte die Hand über den Hörer und lächelte Alex entschuldigend zu. »Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, hat auch nichts über Puerto Rico gehört, aber er versucht gerade,
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