Die Verlorenen von New York
durch. Vielleicht hast du Recht, vielleicht hast du wirklich mit Papá gesprochen, aber wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass er demnächst nach Hause kommt. Noch lange nicht.«
»Und was ist mit Mamá?«, fragte Julie. »Warum kommt sie nicht nach Hause?«
»An dem Abend, als sie losgefahren ist, sind die U-Bahn-Tunnel überflutet worden«, sagte Alex. »Ich hab schon vor Tagen im Krankenhaus angerufen, aber keiner konnte mir sagen, ob sie dort ist oder nicht. Ich glaube, wenn sie dort wäre, hätte sie uns längst angerufen, aber sicher weiß ich das natürlich nicht. Ich habe nach ihr gesucht, Julie. Ich bin am Donnerstag mit dem Bus zum Yankee-Stadion gefahren und habe dort Hunderte von Leichen angesehen, aber Mamá war nicht dabei.«
»Dann muss sie noch am Leben sein«, schluchzte Bri.
»Vielleicht«, sagte Alex. »Aber wenn es ihr gut ginge, hätte sie doch längst angerufen.«
»Dann sind wir jetzt allein«, sagte Julie.
Alex nickte. »Wenn Carlos das nächste Mal anruft, müssen wir ihm Bescheid sagen. Vielleicht lassen sie ihn dann nach Hause. Aber bis dahin sind wir nur zu dritt. Und deshalb müssen wir jetzt auch zusammenhalten. Wir müssen genau das tun, was Mamá und Papá von uns erwarten würden. Wir müssen zur Schule gehen und in die Kirche, und wir müssen die Wohnung in Ordnung halten. Aber ich werde dich nie wieder schlagen, Julie, das schwöre ich dir. Nie wieder.«
Julie sah ihn an. »Was wird denn jetzt aus uns?«, fragte sie. »Was, wenn das Jugendamt herausfindet, dass wir ganz allein sind? Dürfen wir hier überhaupt noch wohnen, ohne Papá? Und wir haben doch auch gar kein Geld. Wer wird für uns sorgen?«
»Wir müssen eben für uns selber sorgen«, sagte Alex. »Bisher haben wir das doch ganz gut hingekriegt. Und die Nachbarn haben sicher andere Sorgen, als uns beim Jugendamt zu melden; wir können hier bestimmt noch eine Zeitlang wohnen, ohne dass es jemand merkt. Was das Geld angeht, weiß ich auch nicht, was wir machen sollen, aber Lebensmittel haben wir ja fürs Erste noch. Wenn’s hart auf hart kommt, ziehen wir eben zu Onkel Jimmy und Tante Lorraine.« Er nahm eine Packung Papiertaschentücher und reichte sie Bri. »Sonst noch Fragen?«
»Tut mir leid, was ich gesagt habe«, meinte Julie. »Aber sie fehlen mir so.«
»Mir auch«, sagte Alex. »Ich bete die ganze Zeit für sie.« Und für uns, dachte er.
Bri schnäuzte sich und warf das Taschentuch in den Papierkorb. »La Madre wird uns erhören«, sagte sie. Sie nahm ihren Rosenkranz, der oben auf der Kommode neben der Marienfigur lag, und kniete sich hin, um zu beten.
Es tut mir leid , formte Alex stumm mit den Lippen, aber selbst wenn Julie ihn verstand, reagierte sie jedenfalls nicht. Er ging hinaus und in sein eigenes Zimmer.
»Barmherzige und liebreiche Mutter, erhöre unser Gebet«, flüsterte er, in der Hoffnung, dass sie ihn über den Lärm der verlorenen Seelen hinweg hören konnte.
Mittwoch, 1 . Juni
Alex stand gerade vor seinem Spind und überlegte, welche Bücher er mit nach Hause nehmen sollte, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er fuhr herum, mit dieser quälenden Mischung aus Wut und Panik, die er in den vergangenen zwei Wochen so oft gespürt hatte. Dass dann auch noch Chris Flynn vor ihm stand, machte die Sache nicht besser.
»Ich wollte mit dir reden«, sagte Chris. »Unter vier Augen.« Er wies auf den nächstgelegenen Klassenraum.
Alex folgte ihm. Er dachte daran, wie oft Chris schon als geborener Anführer bezeichnet worden war. Offenbar war sogar Alex selbst dazu bereit, ihm zu folgen.
Chris schloss die Tür hinter ihnen. »Ich wollte dir sagen, dass ich ab morgen nicht mehr zur Schule komme«, fing er an. »Die Geschichte ist lang und ich erspare dir die Einzelheiten, jedenfalls haben wir nur noch darauf gewartet, dass meine Schwester von der Uni zurückkommt. Jetzt ist sie wieder da, und wir brechen auf.«
»Wohin denn?«, fragte Alex.
»Nach South Carolina«, antwortete Chris. »Meine Mutter hat dort Verwandtschaft. Dad bleibt vorerst noch in der Stadt.«
»Wie jetzt?«, fragte Alex. Dass Chris mitten in der Woche verschwinden wollte, verlieh dem Ganzen irgendwie noch mehr Gewicht. »Und deine Abschlussprüfungen?«
»Habe ich schon hinter mir«, sagte Chris. »War nicht so leicht zu arrangieren, aber ich bin jetzt offiziell in der zwölften Klasse.« Er lachte. »Meinen Glückwunsch, damit bist du Sprecher der Elften. Macht sich gut auf deiner College-Bewerbung, falls es
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