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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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stellte er fest, dass sie eigentlich überhaupt keine Ähnlichkeit mit seiner Mutter hatten. Mamá würde lachen, wenn sie erfuhr, dass er sie mit einer Frau mit Davidstern verwechselt hatte. Er versuchte, sich an den Klang ihres Lachens zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Er würde ihr Lachen noch ganz oft hören, redete er sich ein, es war also gar nicht schlimm, wenn er sich gerade jetzt nicht daran erinnern konnte.
    Bis zum Ende seines Rundgangs hatten noch zwei weitere Leute aus seinem Bus die Reihe verlassen, um zu einem der Polizeiposten zu gehen. Die übrigen verließen das Stadion in der gleichen Reihenfolge, wie sie es betreten hatten. Ihre Spucktüten und Atemschutzmasken warfen sie in die entsprechend beschrifteten Behälter.
    Niemand sagte ein Wort, während sie ihre Tickets vorzeigten und in den Bus Nummer 22 einstiegen. Irgendwann fuhr der Bus dann los. Eine Frau hatte ihre Bibel auf dem Sitz liegen lassen und las jetzt darin, wobei sich ihre Lippen leise bewegten. Ein Dutzend oder mehr Leute weinten. Ein Mann murmelte etwas in einer Sprache vor sich hin, die Alex für Hebräisch hielt. Eine Frau lachte hysterisch. Die Frau neben Alex zerrte ein Taschentuch nach dem anderen aus der Packung und riss es systematisch in Fetzen.
    Gott sei ihren Seelen gnädig, betete Alex. Und unseren auch. Es war das einzige Gebet, das ihm einfiel, so unpassend es auch sein mochte. Es schenkte ihm keinen Trost, aber er wiederholte es unaufhörlich. Solange er betete, musste er nicht denken. Sich nicht erinnern. Sich nicht entscheiden. Nicht zur Kenntnis nehmen, dass er dabei war, eine Welt zu betreten, deren Regeln ihm niemand erklärt hatte, eine Welt, in der es vielleicht gar keine Regeln mehr gab.

 
    VIER
    Freitag, 27 . Mai
    Als die Schüler der Vincent de Paul nach Unterrichtsschluss zum Ausgang strebten, ließ Danny O’Brien auf dem Flur des ersten Stocks ein zerknülltes Stück Papier fallen.
    »Heb das auf«, sagte Alex. »Du hast doch gehört, was Pater Mulrooney gesagt hat.«
    »Heb du’s doch auf«, sagte Danny. » Ich zahle hier wenigstens Schulgeld.« Er wollte schon weitergehen, als Chris Flynn hinzukam.
    »Tu, was er gesagt hat«, fuhr er Danny an. »Heb das auf! Und dann entschuldigst du dich.«
    »Schon gut«, sagte Alex und bückte sich, um das Papier aufzuheben. »Ich hätt’s gleich selber machen sollen.« Der Gedanke, dass ausgerechnet Chris für ihn in die Bresche sprang, machte ihn wütend.
    »Tut mir leid, Morales«, sagte Danny. »Ehrlich. Das muss an diesem Mond liegen. Der macht mich einfach verrückt.«
    »Schon vergessen«, sagte Alex. Er warf das Papier in den nächsten Abfalleimer und lief weiter. Seine Zeit war zu kostbar, um sie an Leute wie Danny O’Brien zu verschwenden.
    Trotzdem ließ ihm der Vorfall keine Ruhe, während er von der Schule aus zu St. Margaret’s lief, und er ging ihm auch nicht aus dem Kopf, als er vor Pater Francos Büro darauf wartete, mit dem Priester sprechen zu können. Er und Danny kannten sich gut. Sie waren im gleichen Debattierteam. Er war sogar schon mal bei Danny zu Hause gewesen, als sie zusammen ein Geschichtsreferat vorbereitet hatten.
    Vielleicht lag es ja wirklich am Mond, dachte Alex. Der machte doch alle verrückt.
    Nach einer Stunde wurde er endlich zu Pater Franco vorgelassen. Der Priester wirkte erschöpft, sehr viel mehr als in der vergangenen Woche.
    »Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht etwas Neues über Puerto Rico gehört haben«, sagte Alex.
    »Nicht viel«, antwortete Pater Franco. »Es sieht nicht gut aus, gar nicht gut. Über das Fischerdorf, in dem dein Vater sich aufhielt, gibt es keine Nachrichten, aber nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, wurden sämtliche Dörfer und Kleinstädte an der Nordküste weitgehend zerstört. Es tut mir leid. Ich weiß, dass dir das nicht viel weiterhilft, aber es kommen kaum Informationen durch. Ich bleibe aber dran. Die Erzdiözese hat sich an meine Fragerei inzwischen schon gewöhnt.«
    »Danke, Pater«, sagte Alex. »Nur eins noch, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    »Nur zu«, sagte Pater Franco. »Was möchtest du wissen?«
    Alex wollte die Frage eigentlich gar nicht stellen, und noch viel weniger wollte er die Antwort hören. »Es geht um die Toten, die bisher geborgen wurden«, sagte er. »Wissen Sie, ob inzwischen alle gefunden worden sind? Zum Beispiel im Yankee-Stadion. Sind das alle Frauenleichen, die gefunden wurden?«
    Pater Franco schüttelte den Kopf. »Viele Leichen

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