Die Verlorenen von New York
jetzt an jeden Tropfen Trinkwasser abzukochen. In der Stadt seien erste Fälle von Cholera aufgetaucht.
»Auch das Wasser zum Zähneputzen«, ermahnte er sie. »Und vergessen Sie nicht, vor dem Rausgehen immer ein Mückenspray aufzutragen, zum Schutz gegen das West-Nil-Virus.«
»Bei Schwester Rita müssen wir uns auch jeden Tag damit einschmieren, bevor wir in den Garten gehen«, sagte Julie altklug. »Sonst dürfen wir gar nicht raus.«
»Prima«, sagte Alex. Er war zu hungrig und zu wütend, um darauf einzugehen.
Dienstag, 5 . Juli
Alex kam mit den zehn Unterschriften zur Schule, zum Beweis, dass er seine morgendliche Runde erledigt hatte. Das Wochenende war lang und elend gewesen, und der gestrige Feiertag hatte die Sache nicht besser gemacht.
Ihre Vorräte waren fast aufgebraucht. Wenn sie nächsten Freitag wieder keine Lebensmittel bekamen, hatte er nur noch zwei Möglichkeiten: entweder das ganze Wochenende über zu fasten oder in der folgenden Woche jeden Tag aufs Abendessen zu verzichten. Andernfalls würde es für Julie nicht mehr reichen.
Er hätte Bri niemals dieses Versprechen geben dürfen. Und ebenso wenig hätte er verhindern dürfen, dass Onkel Jimmy Julie mitnahm. Solange er auch noch für Julie sorgen musste, waren seine Überlebenschancen ziemlich gering, und wenn er umkam, was sollte dann aus ihr werden?
Aber jetzt hatte er sie nun mal am Hals, zumindest so lange, bis er sie irgendwo unterbringen konnte. Ob vielleicht die Schwestern an ihrer Schule einen sicheren Ort für sie kannten? Sobald er eine von ihnen sprechen konnte, ohne dass Julie es herausbekam, würde er sie fragen.
Er brachte die Liste zu Pater Mulrooney ins Büro. »Hier sind die Unterschriften, Pater«, sagte er.
Pater Mulrooney streifte die Liste mit einem flüchtigen Blick. »Sehr gut«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben am Wochenende über einiges nachgedacht, Mr Morales.«
»Ich hab über vieles nachgedacht«, erwiderte Alex und versuchte, den Zorn in seiner Stimme zu unterdrücken. »Unter anderem auch über die Tugend der Barmherzigkeit.«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, ich sei unbarmherzig gewesen?«, fragte Pater Mulrooney.
Zum Teufel mit ihm und seinen Augenbrauen, dachte Alex. »Ja, Pater, genau das will ich andeuten«, antwortete er.
»Und was ist so besonders an Ihrem Schicksal, dass Sie Barmherzigkeit verdienen?«, fragte Pater Mulrooney. »Sie haben ein Dach über dem Kopf. Sie haben zu essen. Sie haben Freunde und Familie. Oder soll ich Sie etwa für Ihren Schnitt an der Wange bemitleiden?«
»Sie haben doch überhaupt keine Ahnung«, sagte Alex. »Mein Dach über dem Kopf habe ich noch genau so lange, wie es niemandem auffällt. Sobald bekannt wird, dass mein Vater weg ist, kann man uns jederzeit rauswerfen. Und zu essen habe ich auch nur so lange, wie ich hier das Schulessen bekomme. Zu Hause ist fast nichts mehr übrig, und ich muss auch noch für meine kleine Schwester sorgen. Sie ist im Moment meine Familie; meine Eltern sind verschollen, mein Bruder ist irgendwo mit den Marines, meine andere Schwester habe ich zu Fremden ins Kloster geschickt. Und diesen Schnitt habe ich mir zugezogen, als ich in eine Hungerrevolte geraten bin, zusammen mit meiner kleinen Schwester, und am Ende haben wir trotzdem keine Lebensmittel bekommen. Sie sollen mich nicht bemitleiden. Das tue ich selbst schon genug. Aber wenn einer Ihrer Schüler Sie um etwas zu essen bittet, dann sollten Sie ihn nicht wegschicken und das auch noch gerecht finden. Christus hätte nie so gehandelt, und das wissen Sie genau.«
»Wir erleben eine schlimme Zeit«, erwiderte Pater Mulrooney. »Da sind Regeln wichtiger denn je. Ohne Regeln herrscht Anarchie.«
Alex dachte an die Revolte, an das Baby auf dem Boden, an den Mann, auf den er einfach draufgetreten war. »Manchmal funktionieren die Regeln aber nicht«, sagte er. »Manchmal sind sie erst der Grund für Anarchie.«
»Sie waren Mitglied im Debattierclub, stimmt’s?«, fragte Pater Mulrooney.
»Ja, Pater«, antwortete Alex.
Pater Mulrooney nickte. »Gut«, sagte er. »Ich werde über Ihre Worte nachdenken.«
»Danke, Pater«, sagte Alex. »Und ich über Ihre.«
Er verließ das Büro und stand plötzlich vor Kevin Daley. »Das hatte Stil«, sagte Kevin.
»Danke«, sagte Alex. »Fand ich auch.«
Mittwoch, 6 . Juli
Alex wollte gerade losgehen, um Julie abzuholen, als Kevin auf ihn zukam. »Ich hab was für dich«, sagte er und drückte Alex eine braune Papiertüte in die
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