Die Verlorenen von New York
Hand.
Alex lugte hinein und entdeckte eine Dose Kochschinken.
»Wo hast du den denn her?«, fragte er.
»Keine Sorge«, sagte Kevin. »Den wird keiner vermissen.«
»Ich kann dir aber nichts dafür geben«, sagte Alex und hielt ihm die Tüte wieder hin.
»Ich will auch gar nichts dafür haben«, sagte Kevin. »Du würdest mir eher einen Gefallen tun. Ich kann das Zeug nicht ausstehen.«
Alex mochte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Mahlzeiten ihnen dieser Schinken liefern würde. »Danke«, sagte er. »Meine Schwester und ich… Also, das ist wirklich nett von dir.«
»De nada« , sagte Kevin mit einem Grinsen, und Alex grinste zurück.
Donnerstag, 7 . Juli
Alex ließ Julie in der Wohnung allein, um in den leeren Apartments, zu denen er die Schlüssel hatte, nach einem Wecker zu suchen. Es dauerte eine Weile, aber in 11 F fand er schließlich einen. Irgendwann würde er das alles noch einmal gründlicher durchgehen, aber fürs Erste war er zufrieden.
Er stellte den Wecker auf fünf Uhr früh, damit er sich in Ruhe fertig machen konnte. Die Ausgangssperre endete morgens um sechs. Er wusste nicht, wie streng sie eingehalten wurde, aber er wollte kein Risiko eingehen. Wenn er wegen Verletzung der Ausgangssperre im Gefängnis landete oder gar erschossen wurde, wäre das Julies sicherer Tod.
Er würde sowieso nicht gut schlafen, vor lauter Angst, der Wecker könnte vielleicht nicht klingeln. Es würde sicher eine Weile dauern, bis er sich auf ihn verließ. Aber das war nun mal die einzige Möglichkeit angesichts der unzuverlässigen Stromversorgung. Und in dem Bewusstsein, sein Bestes getan zu haben, sah er den morgigen Ereignissen auch gleich etwas gelassener entgegen.
Freitag, 8 . Juli
Der Wecker funktionierte. Alex zog sich an und legte Julie eine Notiz hin, dass er sich bei der Lebensmittelverteilung anstellen werde und dass sie im Haus bleiben solle, bis er zurück war, was sie bestimmt auch tun würde. Inzwischen befolgte sie die meisten seiner Vorschriften. Aber das lag vielleicht auch daran, dass er ihr gar nicht mehr so viele machte.
Punkt sechs verließ er die Wohnung und rannte die wenigen Blocks bis zur Ecke 84 th Street und Columbus Avenue. Als er dort ankam, reichte die Schlange zwar schon um die Ecke herum bis in die Amsterdam Avenue hinein, war aber bei weitem nicht so lang wie in der Woche zuvor. Ob sie am Ende wieder genauso lang werden würde, oder hatten einige Leute inzwischen aufgegeben? Eigentlich konnte es ihm egal sein, solange er selbst früh genug gekommen war, um noch eine Tüte zu ergattern. Zwei wären besser gewesen, aber nach dem, was letzte Woche passiert war, wollte er Julies Leben nicht noch einmal aufs Spiel setzen. Eine Tüte Lebensmittel würde hoffentlich übers Wochenende reichen und dann auch noch für Julies Abendessen in der nächsten Woche, wenn schon nicht für ihn. Für ihn war es nicht so wichtig. Er gewöhnte sich allmählich an den Hunger. Es gab Schlimmeres.
Gegen halb zehn rückte die Warteschlange dann langsam vor. Das war ein gutes Zeichen. Um Viertel nach zehn war Alex bereits im Gebäude und zwanzig Minuten später konnte er es mit einer großen Plastiktüte wieder verlassen. War doch ganz einfach, dachte er, während er nachschaute, was in der Tüte war. Eine Packung Milchpulver. Zwei Flaschen Mineralwasser. Eine Dose Spinat, zwei Dosen grüne Bohnen, eine Packung Reis und ein Karton Instant-Kartoffelpüree. Eine Dose Hühnerfleisch und eine mit roten Bohnen. Ein Glas Rote Bete, eine Dose Obstsalat. Ziemlich genau das Gleiche, was es auch immer in der Schule gab. Und genug für das ganze Wochenende und für ein leichtes Abendessen für Julie unter der Woche. Sie war ziemlich erfinderisch geworden, was das Strecken ihrer Vorräte anging; vielleicht konnte sie sogar noch die eine oder andere Mahlzeit für ihn daraus zaubern.
Er ging zügig nach Westen, um die immer noch wartende Menschenmenge hinter sich zu lassen, und kam ohne Zwischenfall zu Hause an. Er zeigte Julie, was in der Tüte war, und begleitete sie dann zum Central Park. Auf dem Weg zur Schule machte er noch rasch seine Besuche.
»Na bitte«, sagte Pater Mulrooney, als Alex ihm den Unterschriftenzettel reichte. »Ich wusste doch, dass Sie das alles schaffen können.«
Alex war nicht sicher, aber es sah fast so aus, als würde Pater Mulrooney lächeln. Alex ging das Risiko ein und lächelte zurück.
In der Cafeteria wartete Kevin auf ihn. »Wo warst du denn heute Morgen?«, fragte
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