Die verlorenen Welten von Cronus
sich eingestehen, daß sie über ein höchst effizientes Transportsystem verfügten.
An manchen besonders lauten Stellen schien Ainsa die Wahl zwischen verschiedenen Abzweigungen zu haben. Er machte sich dann an irgendeiner Vorrichtung im Bug zu schaffen, woraufhin sich das Rauschen des Wassers veränderte, so als ob sie jetzt durch einen anderen Tunnel führen. Die Bewohner der Boxa-Schale mußten über ein ganzes Netz dieser rasenden Untergrundkanäle verfügen, die ein cleverer Steuermann nach Belieben durchqueren konnte. Allerdings blieb die Frage offen, wie man eine Rückfahrt bewerkstelligte.
Dann wurde alles anders. Sie schossen aus ihrem rasenden Kanal in einen ruhigeren Abschnitt und wurden in eine weitläufige Höhle gespült, wo sich die Fluten weiter verlangsamten. Und plötzlich nahm Boxa Licht wahr – Licht, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Die gesamte Decke, die zwar unregelmäßig, aber sicher nicht natürlichen Ursprungs war, lumineszierte in einem matten, roten Licht. Sie schien zu glühen, aber Boxa spürte keine Wärme. Und im Wasser gediehen sonderbare Pflanzen, die man in Reihen in weitem Abstand angepflanzt hatte, um Booten die Durchfahrt zu ermöglichen.
Boxa hatte das Gefühl, sich in einem unterirdischen hydroponischen Garten zu befinden, und die Größe und prächtigen Blüten der Pflanzen bewiesen, wie gut sie im matten Glühen der Decke gediehen. Seine Augen sagten ihm, daß die Phantasie mit ihm durchging, daß dies nur der letzte Teil des Alptraums war, der im Shuttle auf der Mars-Schale begonnen hatte. Sein wissenschaftlich geschulter Verstand belehrte ihn allerdings eines Besseren. Das Licht wurde durch eine Art von Elektro-Lumineszenz hervorgerufen, er konnte aber nicht herausfinden, wie man sie erzeugte. Die Pflanzen mochten eine von Zeus’ Mutationen sein, die er zur maximalen Ausnutzung spärlichen Lichts herangezüchtet hatte. Dasselbe galt für Ainsas Volk. Sie waren dem Leben im Untergrund angepaßt: Die Umgebungstemperatur war für sie ohne Heizung erträglich, und ihre leuchtenden Augen machten künstliches Licht überflüssig.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Die Boxa-Schale besaß keine Proto-Sonnen. Dies hier war Zeus’ ›Spar-Modell‹! Die benötigte Energie wurde direkt auf der Schale zur Verfügung gestellt, statt daß die Proto-Sonnen einen großen Teil davon ins Nichts abstrahlten. Zu diesem Zweck hatte man Ainsa und seine Artgenossen einem Leben in der Schale und in ewiger Dunkelheit angepaßt. Damit hatte Zeus eine neue Dimension hinzugewonnen: Zur Erfüllung der Soll-Zahlen mußte er nicht mehr länger die Oberfläche der Schalen ausweiten, er konnte die Menschen einfach in der Vertikale stapeln und so einen großen Teil der Schalen an sich nutzen. Niklas Boxa hatte noch keinen Hinweis auf weitere Ebenen gefunden, aber die Logik und auch sein Gefühl sagten ihm, daß es sie geben mußte, und der Gedanke ließ ihn erschauern.
Wie viele Ebenen mochte es geben? Zehn, einhundert, tausend? Wenn Zeus beim Terraforming der Schale bereits mit diesem Plan vorgegangen war, waren die Möglichkeiten praktisch unbegrenzt. Die ursprünglichen Schätzungen der Einwohnerzahl auf der Boxa-Schale hatten naiverweise nur ihre Oberfläche einbezogen und sich auf etwa 30 Trilliarden Bewohner belaufen. Angenommen, Zeus hatte sich hier nur der durchschnittlichen solaren Bevölkerungsdichte von viertausend Menschen pro Quadratkilometer bedient, wie hoch konnte dann die Bevölkerungszahl der Boxa-Schale sein? Das Zehn-, Hundert- oder sogar Tausendfache? Grob geschätzt konnten auf der Boxa-Schale mehr Menschen leben als auf allen übrigen Schalen Solanas zusammengenommen. Und die gesamte Bevölkerung war dem Leben in ewiger Dunkelheit angepaßt!
Ainsa nahm das Zittern von Boxas Händen besorgt zur Kenntnis. Es schien fast, als ob er die schwindelerregenden Gedanken erahnte, die durch Boxas Gehirn jagten.
»Bald ausruhen. Dann wir reden.«
Boxa nickte. Er versuchte, das, was er wahrnahm, zu analysieren und einige vorläufige Erklärungsmuster für diese sonderbare Umwelt herauszuarbeiten. Nach einigen Kilometern verengte sich die Höhle und ging wieder in die donnernde Dunkelheit eines Tunnels über. Der Verlust des matten Glühens der Wassergärten bedrückte Boxa, und er lehnte sich eng an Ainsa, um wenigstens ab und zu im schwachen Licht, das aus den Augen seines Begleiters drang, einen Blick auf die Gerätschaften des Boots zu erhaschen.
»Augen sehr schlecht!«
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