Die Vermessung der Frau
völliger Oberflächlichkeit diskutiert, bis die Frauen auch in Deutschland wieder so normal wie üblich belästigt werden dürfen.
Der Auslöser der Debatte war aus ernsthafter philosophischer Sicht besonders ärgerlich. Rainer Brüderle soll 2012, ein Jahr vor der Berichterstattung, einer Stern-Journalistin gegenüber eine schlüpfrige Bemerkung über deren Oberweite gemacht haben. So weit, so unfassbar ungut. Wir Europäer aber sind nun schon so amerikanisiert, dass auch wir bei einem solchen Bericht sofort mit der »political correctness«-Keule zuschlagen. Wir sind schockiert, empört und organisieren x Talkrunden zum Thema, während die Menschenhändler aus Rumänien und Bulgarien eifrig ihrem einträglichen Geschäft nachgehen und Frauen aufs Übelste misshandeln, foltern und verkaufen, ohne dass in Deutschland dazu auch nur einmal ein »Hashtag-Aufschrei« passieren würde. Tja. Altherrenwitze gegenüber aufstrebenden Journalistinnen sind offenbar diskussionswürdiger als Realpolitik.
Nun weiter im Text. Ohne darüber nachzudenken, was der Artikel der Stern-Journalistin wirklich bedeutet, wie er einzuordnen ist und wie es denn wirklich steht mit der Situation der Frauen weltweit und in Deutschland im Besonderen, wird über Wochen inhaltsleer mit den ewig gleichen Phrasen über »Männer« und »Frauen« geredet. Normal ist offenbar, wenn Rainer Brüderle und seine wirtschaftsliberale Partei während Jahren ungeniert den Abbau von Sozialleistungen und die Verdinglichung der Frau mittels Prostitution und Kinderhandel zum Wohle des Wirtschaftswachstums vorantreiben. Doch wehe, ein besoffener 67-Jähriger schlabbert eine 29-Jährige an! Dann ist Feuer im Dach. Das gibt Schlagzeilen! Da rufen alle: Halt! Dieses bigotte apolitische Denken amerikanischer Coleur, das den
Schein immer über das Sein stellt, verstellt uns allen den Blick auf das Wesentliche, nämlich auf das Handeln der Akteure. Normal ist, wenn die rot-grüne Regierung 2002 ein Gesetz für Prostitutierte einführt, das Deutschland innerhalb von zehn Jahren zum Umschlagplatz für Menschen- und Kinderhandel macht und 2013 zu einem Fall führt, in dem das Arbeitsamt einer arbeitslosen 19-Jährigen mit Arbeitslosengeldstreichung droht, sollte sie den vom Arbeitsamt vermittelten Job nicht annehmen. Wissen Sie, was der Job war? Eine Gastronomie-Stelle in einem Bordell!
Normal ist, wenn in Berlin Models wie Schaufensterpuppen auf Podeste gestellt werden, fertig zum Beschauen und Mitnehmen für die kaufkräftige Design-Kundschaft. Normal ist, wenn der Waschmittelhersteller »Ariel« eine Frau plappern lässt, ihr Mann meine immer, sie kaufe zuviel ein, dabei könne sie nur so gut mit »Ariel« waschen, dass die Kleidungsstücke wie neu aussähen. Normal ist, dass Frauen höchstens zwei Drittel des Einkommens eines Mannes in gleichgestellter Position erleben. Normal ist, dass Frauen wie Mädchen aussehen, sich wie eine Dame benehmen, wie ein Mann denken und schließlich wie ein Pferd zu einem Zehntel des Lohnes schuften sollen. Normal ist, wenn wir unsere vierjährigen Mädchen in Schönheitswettbewerben aufpeppen, sie in die rosa Hölle stecken und von ihnen dann erwarten, dass sie in 30 Jahren die Vorstände der börsennotierten Unternehmen füllen. Normal ist, wenn ein 45 Jahre alter Mann einer 16-Jährigen hinterherstarrt, als wäre sie tatsächlich eine mögliche Sexualpartnerin. Normal ist, wenn Männer andere Männer zu jüngeren Frauen beglückwünschen, selbst wenn die jüngeren Frauen so aussehen und sich benehmen, wie diese die Männer als jüngere Menschen nicht einmal mit dem Hintern beachtet hätten.
Wenn wir das Private als wichtiger erachten als das politische Wirken, dann schaffen wir die Demokratie mittels Boulevard ab. Fragen Sie doch mal all die unterbezahlten Krankenschwestern,
Verkäuferinnen und Kindergärtnerinnen, was in ihrem Leben wichtiger ist: Dekolleté oder Job?
Um auf meinen Weltwoche-Titel von vor 8 Jahren zurückzukommen: Viel hat sich verändert, aber nichts wirklich verbessert. Ja. Der Sexismus lauert überall. Nur wird er leider nie dort gesucht, wo er tatsächlich wie ein Monster grassiert, nämlich in den herrschenden Machtverhältnissen.
Philosophisch ist zwar meine Analyse von damals in punkto eigentlicher Abschaffung des Menschen, wenn dieser auf seine neurologischen und genetischen Abdruck fixiert wird, noch immer so zutreffend wie damals, denn: »Wenn Gene sprechen, verstummen die Menschen«.
Doch in
Weitere Kostenlose Bücher