Die Vermessung der Frau
hat der Zweifel ein unbedingtes, wenn auch selten direkt ausgesprochenes Primat vor dem Denken. Dafür ist er umso williger, wenn es darum geht, moderne Wissenschaftstheorien wie ein Schwamm das Badewasser aufzusaugen.
16) »Sie wird vermessen. Schließlich gelten die Zahlen in Zeiten der Unsicherheit als das einzig Verlässliche«: Hannah Arendt weist darauf hin, dass sich die Wissenschaftsorganisationen gerne objektiv und keiner politischen Partei zugehörig geben. Sie organisieren sich aber wie besessen und sind Meister darin, alle Nicht-Clubmitglieder auszuschließen. »Eine Organisation aber, ob sie nun aus Politikern besteht oder aus Wissenschaftlern, die sich verpflichtet haben, sich in politische Streitigkeiten nicht zu mischen, ist per definitionem eine politische Institution: wo Menschen sich organisieren, tun sie es, um zu handeln und Macht zu gewinnen. (...) Das Zeitalter der Wissenschaft entwickelt sich zu einem Zeitalter der Organisationen. Organisiertes Denken ist die Grundlage für organisiertes Handeln und zwar, ist man versucht hinzuzufügen, nicht weil das Denken die Grundlage des Handelns ist, sondern weil die moderne Wissenschaft als das ›organisierte Denken‹ ein Element des Handelns in das Denken überhaupt erst einführte.« Arendt, V.A., S. 473, Anm. 26 zu Kapitel VI.
17) »Anorexie, Bulimie, Dysmorphia«: Der Körper und seine Attraktivität gehören zum modernen Auftrag. Der Körper ist nicht Schicksal, sondern das Ergebnis des richtigen Verhaltens. Unter diesem Druck entwickeln sich die unterschiedlichsten Pathologien, die bei Lisa Schmuckli als Ausdruck weiblicher Freiheit gedeutet werden.
18) »Cogito ergo sum« habe ich in meinen Veröffentlichungen zum »In media ergo sum« hin zum »Coitus ergo sum« umgewandelt, um die »Pornografisierung des Alltags«, die zuerst im Denken, dann in den Medien und schließlich in unserem Körper stattfindet, zu beschreiben.
19) »Die Erfahrung des Denkens«: Zum Ideal der Wahrheit wird seit René Descartes die mathematische Gleichung. Mathematik soll nach Descartes auch den Menschen errechnen. Galileo Galilei formulierte dies präzise: »Die neue Wissenschaft hat die Sinne vergewaltigt.« Dies kreiert eine absurde Welt wie dies Tomas Sedlacek in seinem Werk »Die Ökonomie von Gut und Böse« treffend formuliert: »Systeme mit inneren Widersprüchen, die zum Teil im Konflikt mit der Realität stehen und häufig auf bewusst völlig unrealistischen Annahmen beruhen und zu extrem absurden Schlüssen kommen, werden trotzdem erfolgreich angewendet. ... Die ökonomischen Modelle werden somit nicht auf Grundlage ihrer größeren oder geringeren Wahrheit akzeptiert ..., sondern vielmehr auf Grundlage ihrer Glaubwürdigkeit, Eignung, Überzeugungskraft oder Übereinstimmung mit unserem internalisierten Glauben an das Funktionieren der Welt (das heißt, mit entlehnten oder ererbten Paradigmen, oder, wenn man so will, Vorurteilen). S. 221-222.
20) »Interessanterweise beginnt mit dem Zweifel selbstverständlich die Suche nach der absoluten Wahrheit.« Weil die »certitudo salutis« ein Bemühen ohnegleichen war, sich in dieser Welt zu bewähren, so endete dieser Verlust der Wahrheitsgewissheit in einem neuen Eifer für Wahrhaftigkeit. Hannah Arendt bemerkt dazu trocken in einer ihrer Anmerkungen: »Es ist auffallend, dass keine der Weltreligionen, mit Ausnahme der Lehre des Zarathustra, jemals die Lüge für eine der Todsünden gehalten hat. Unter den Zehn Geboten findet sich kein Verbot: Du sollst nicht lügen, denn das ›Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider Deinen Nächsten‹ ist natürlich etwas ganz anderes. Es scheint überhaupt, als habe vor dem Aufkommen des Puritanismus niemand das Lügen moralisch sonderlich ernst genommen.« Arendt, V.A., Kapitel VI, Anm. 37, S.475.
21) »Es ist, als sei Demokrit’s alte Prophezeiung wahr geworden, dass ein Sieg des Verstandes über die Sinne mit einer Niederlage des Verstandes enden werde.« Hannah Arendt, V.A.,S. 415.
UNITED STATES OF CALORIES
1) »Bis ich 16 war, kümmerte ich mich nicht weiter«: Hier beschreibe ich meinen verzweifelten Versuch, meinen eigenen Körper zurückzufinden, wiederzufinden in einer Überflussgesellschaft, die meinen Körper mit einer unerbittlichen Konsumhaltung zu beschreiben begann. Ich wusste von da an, dass ich mich bei der Lektüre großer Schriften immer wieder auch mit meinem Körper befassen würde. Körper und Schrift sind seit meinem Austauschjahr eng
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