Die Vermessung der Frau
Dinge statt ein neues Stück Schokolade nachzudenken.
DIE BÖSE KÖNIGIN UND IHR SPIEGEL
1) »Spiegel«: Das Substantiv stammt aus dem lateinischen »Speculum«. Dieses wurde im Laufe der Zeit nur noch medizinisch-anatomisch verwendet. Das Abbild des Menschen wanderte also ins Labor – hier stecken viele spannende philosophische Zusammenhänge, die noch erforscht werden müssten. Der Spiegel ist immer auch Täuschung, da die Spiegelung einen
glänzenden Widerschein darstellen soll. Sie ist aber nie die Wirklichkeit, sondern eben ein Bild.
2) »Speculum«: Das ist ein in der Medizin verwendetes Instrument, das zuerst für die Gynäkologie entwickelt wurde. Es soll das Spähen und Begutachten von Körperhöhlen ermöglichen. Auch hier zeigt sich die enge Verknüpfung zwischen Sehen, Bild und Medizin. Dass der Spiegel eines der Grundinstrumente für die weltliche Herrschaft über die Menschen werden kann, wurde noch kaum diskutiert.
3) »Sie sind die Schönste hier, aber«: Der Spiegel der Königin lügt, denn es lässt sich objektiv nicht feststellen, wer die Schönste ist. Doch der Spiegel gibt vor, die Wahrheit zu sagen. Die Vernunft siegt über die Sinne. Selbst wenn sich die Königin schön fühlt, darf sie nicht schön sein. Die sogenannte objektive Wahrheit des Spiegels macht die Königin zur besessenen Mörderin. Was ist denn überhaupt schön? Was ist tausendmal schöner als Ihr? In welcher Hinsicht denn? Punkto Alter? Punkto rosiger Haut? Punkto ebenholzfarbigen Haar? Punkto roten Lippen? Die Wahrheit des Spiegels ist nichts anderes als eine Teilbetrachtung, die sich auf Materie, Mathematik und Technik stützt.
4) »Spieglein, Spieglein an der Wand«: Der Spiegel im Märchen ist damals so mächtig wie heute. Seine Wirkung entspricht die von Hans Belting beschriebenen »Eroberung des Menschen als Bild«. Es ist als müsste der Mensch hinter dem Bild verschwinden. Der Spiegel produziert eine Königin, die nicht mehr sich selber gehört, sondern nur noch ihrem Spiegel.
5) »Wer ist die Schönste im ganzen Land?«: Wer ist Subjekt, wer Objekt? Hier geht es um das Verhältnis von Menschen und Dingen. Philosophisch betrachtet sind heutzutage Menschen oft verzauberte Dinge, während Dinge sich wie verzauberte Menschen verhalten – kurz, beide Seiten von Materie und Kommunikation haben Botschaften, die sich zeigen und die erkannt werden müssen.
6) »Ist tausendmal schöner als Ihr«: Es würde zu weit führen, hier Jacques Lacan auch nur ansatzweise erklären zu wollen, deshalb muss ein Satz genügen: »Le je n’est pas le moi« – Das Ich ist nicht das Selbst (in meiner Übersetzung), weil das Erkennen im Spiegel zugleich ein Verkennen ist und zu einer Spaltung des Subjektes führt, in ein Ich und in ein Selbst (in meiner Interpretation). Die Königin ist die moderne Frau, der Spiegel das Schönheits- und Gesundheitsdiktat der Konsumgesellschaft.
7) »Schneewittchen«: Selbstverständlich ist Schneewittchen jünger als die Königin. Die Königin ist neidisch. Das archetypische Thema der neidischen Alten und der schönen Jungen fällt zeitlich mit den ersten Einrichtungen der patriarchalen Stammesgesellschaften zusammen. Matriarchale Gesellschaften machen in der Fortpflanzung keinen Altersunterschied.
8) »Spiegel sprich«: Die Königin darf sich nicht mehr imaginieren, sondern sie engt sich selbervon einem konstruierten Bild ein. Der Ort dessen, was Frauen sehen, liegt außerhalb der Frauen. Die Bild-Weiblichkeit zerstört Frauen.
9) »an der Wand«: Der Spiegel ist im Märchen fix – anders als in der alten Filmversion von Disney. Die Wand ist entscheidend, denn sie hält den Spiegel und entspricht damit der symbolischen Matrix von Lacan.
10) »Zerstörungswut«: Luce Irigaray beschreibt die psychologische Wirkung eines entfremdeten Blicks, der Frauen nicht fremd ist. Einerseits wird die Frau so gesehen und in die gesellschaftliche Macht eingeordnet, andererseits ermöglicht der entfremdete Blick einen sinnlichen und nicht einen sehenden Zugang zum eigenen Körper.
11) »Schönheit«: Für Frauen ist nicht das Sehen entscheidend, sondern das Fühlen – wenn es um das Genital geht. Die Frau kann ihr Genital nur mit einem Spiegel und einer Kamera sehen. Damit ist für Mädchen wichtig, dass sie ihr Genital ertasten – nach wie vor eher ein Tabu oder in Pornos unsäglich verunstaltet. Luce Irigaray dazu: »Die Frau genießt mehr durch die Berührung als durch den Blick, und ihr Eintritt in eine herrschende
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