Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regula Stämpfli
Vom Netzwerk:
verknüpft.
2) »Schreckensherrschaft der Diäten«: Christina von Braun hat schon 1985 mit »Nicht-Ich«, Logik, Lüge, Libido zur Reflektion des weiblichen Körpergefühls ein umfassendes Werk vorgelegt, das sehr schwer zu rezipieren und zu verstehen ist. Sie führt weiblichen Krankheiten wie Hysterie, Anorexie und Bulimie auf das gewandelte Verhältnis von Körper und Schrift zurück. Frauen wurden beschriftet und so eingekerkert in eine Dichotomie von Körper und Geist. Aus diesem Gefängnis zu entfliehen war nach von Braun der Sinn von Hysterie, Anorexie und Bulimie. Christina von Braun dazu: »Der Hungerstreik, der passive Widerstand dient als Mittel, das Ich in eine ungreifbare Utopie zu verwandeln, eine echte, weil nicht realisierte und nicht realisierbare Utopie. Sie dienen der Derealisierung, der Wahrung des Wunsches, der Projektion. So erklären sich die stets gefüllten Speisekammern der Anorektiker: die Nahrung, die Materie wird rückverwandelt in Wünsche, in Utopien. Diese Entwicklung bedeutet aber, dass das utopische Denken – trotz Materialisierung der Ideale, trotz Beleibung des Logos – nicht untergegangen ist. Es hat nur die Funktion geändert: das utopische Denken dient nicht mehr der Schöpfung und Verwirklichung imaginärer Modelle, sondern der Ablehnung der bestehenden Wirklichkeit. (...) Damit schlägt sich das utopische Denken aber auf die Seite der Krankheit. Es sucht, wie die Magersucht, die De-Realisierung herbeizuführen. Mit dieser Entwicklung sind auch die alten Gegensätze von Projektion und Lüge aufgehoben. Die alten Feinde, die gegensätzliche Wahrheiten verkündeten, verfolgen nun beide das gleiche Ziel, die Entkörperlichung.« S. 468-469.
3) »Mittlerweile ganze Bibliotheken umfassenden Kulturtheorien«: Allein bei Philipp Sarasin umfassen Quellen, Zeitschriften sowie Literatur über 40 kleinstbedruckte Seiten. Die Popularisierung der spannenden wissenschaftlichen Diskurse zur Konstruktion von Körper und Geschlecht ist indessen – im Unterschied zu den oft weniger seriösen biologistischen Studien – fast inexistent. Es gibt kaum größere Abgründe zwischen universitärer Forschung und medienwissenschaftlicher sowie gesellschaftspolitischer Rezeption als beim Thema Geschlecht und Körper. Resultate dieser Diskrepanz
zeigen sich dann in medial weitverbreiteten, völlig vormodernen Geschlechteridiotien. Diese strukturelle Absurditäten erinnern mich an Erich Kästners Worte in »Fabian«: »Wie? Doktor sind Sie auch? (...) Wie hieß denn Ihre Dissertation?« »Sie hieß: ›Hat Heinrich von Kleist gestottert?‹ Erst wollte ich an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, dass Hans Sachs Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu lange.« S. 42.
4) »Körper mit Diskursen und Macht zu beschriften«: Wer sich mit Schrift, Macht und Körper näher befassen will, ist bei Foucault, Butler, Elias, Bourdieu, Baudrillard, von Braun, Sarasin und Schmuckli gut aufgehoben.
5) »Big-Brother-Blick«: Die inszenierte Weiblichkeit ist Imagination und Überwachung gleichzeitig. Christina von Braun meint zur mütterlichen Imagination: »Es gibt zum Beispiel die ›Mutter‹, die das Kind gebiert; aber daneben gibt es auch eine abstrakte ›Mutter‹, ein Bild der Mutter, das der realen Mutter widerspricht, ihr aber als ›Ideal‹ gegenübersteht. Man kann sie als ›fremdbestimmte‹ oder als ›abstrakte‹ Mutter bezeichnen. Sie wurde zum Instrument der Vernichtung der realen Mutter.« Die Vernichtung von echter Weiblichkeit zugunsten einer imaginierten Weiblichkeit wurde mir in den USA bewusst.
6) »Essstörungen töten die Seele«: Laurie Penny bringt dies in ihrem kraftvollen Bändchen »Fleischmarkt« auf den Punkt: »Körperkult ist der Basis-Code in dieser Sprache der Nötigung, die Frauen in den irren Glauben treibt, dass wir ein glückliches, erfülltes Leben führen könnten, wenn wir uns nur in das enge Korsett einer akzeptierten weiblichen Körperlichkeit zwängen, wenn wir unsere Körper zähmen, die vermarkteten Zeichen der westlichen Weiblichkeit kaufen und unsere Sexualität in einer frigiden und entfremdeten Weise ausüben. Das ist offensichtlich eine Lüge.« Laurie Penny, Fleischmarkt, S. 122. Wie gut, dass ich mit 16 Jahren schon über genügend Selbstbewusstsein verfügte und lange in französischsprachigen Ländern gelebt habe. Sonst hätte ich wie die meisten Frauen ein völlig gestörtes Essverhalten und damit wenig Energie, um über wirklich wichtige

Weitere Kostenlose Bücher