Die Vermessung der Lust (German Edition)
Also doch. Sie war zu laut gewesen, wahrscheinlich hatte das ganze Institut ihren Orgasmus gehört.
»Es... tut mir leid«, sagte sie leise und überlegte, ob es angebracht war zu schluchzen oder wenigstens so zu tun, als reibe sie sich eine Träne von der Wange.
»Warum?«, fragte Madeleine Vulpius überrascht. »Ich mag es, wenn meine Doktoranden Eigeninitiative entwickeln.«
Jetzt verarschte sie die Alte. Was sollte das? Spontanes Poppen in der Arbeitszeit als Eigeninitiative? Das war einfach zynisch. Dora hob trotzig den Kopf.
»Ich stehe dazu!«, sagte sie mit einigermaßen fester Stimme. »Es ist halt passiert und ich würde es immer wieder tun! Natürlich trage ich die Konsequenzen, das ist klar.«
Jetzt war Frau Professor noch mehr überrascht, das konnte man deutlich erkennen. Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
»Sie kämpfen für Ihre Sache, das finde ich prima. Und es ist in der Tat ein interessantes Experiment, wir sollten es intensivieren und sorgfältig wissenschaftlich aufarbeiten.«
»Wovon... von was...«
»Na, von ihrem Vorschlag, auch Personen, die sich sexuell gleichgeschlechtlich orientieren, in die Versuchsreihe mit einzubeziehen. Wir sollten uns überhaupt noch einmal über das Prozedere unterhalten, vielleicht am besten mit Lars. Ist er schon im Haus?«
Irritiert schüttelte Dora den Kopf. »Also bis eben noch nicht...«
»Gut, wir haben ja Zeit. Mir ist aufgefallen, dass wir bisher die Stimmen der Probanden sehr vernachlässigt haben. Immer nur physische Äußerlichkeiten, verstehen Sie? Aber was bewirkt der Klang der Stimme? Wie erhöht oder senkt sie die Attraktivität? Ich denke, das wäre eine fruchtbare neue Fragestellung. Und das mit den Gleichgeschlechtlichen gehen wir auch an, versprochen. Nicht nur, weil es Ihnen anscheinend ein Herzensbedürfnis ist.«
Dora schluckte. Die Alte wusste alles. Sie war nicht umsonst eine Kapazität auf dem Feld der Psychologie, wahrscheinlich stand es Dora mit unsichtbarer Tinte auf die Stirn geschrieben. »Ich bin latent lesbisch und heute Abend lasse ich mich von dieser Simone vernaschen.«
*
Lars hatte sich fest vorgenommen, nie mehr ins Institut zu gehen. Mehr noch: Er würde aussteigen, aus allem. Die Doktorarbeit abbrechen, schlimmstenfalls als Unterwäschemodel arbeiten, Sex nur noch mit minderjährigen, Kaugummi kauenden Mädchen praktizieren. Immer noch besser, als Madeleine Vulpius unter die Augen treten zu müssen, jener Frau, der er eine Hand aufs Knie gelegt hatte.
Was für ein verfickter Tag gestern doch gewesen war, man konnte das wortwörtlich nehmen. Lars hatte sich fatal verfickt, einer Frau aus purer Kollegialität und Mitleid beigewohnt, einer anderen hingegen, die er leidenschaftlich begehrte, nicht. Hand am Knie. Mein Gott, das war finsterste Pubertät, so benahmen sich fünfzehnjährige Pickelfressen!
Vor lauter Wut und Frust verzehrte Lars vier Marmeladensemmeln, eine an gewöhnlichen Tagen tödliche Dosis, denn seine Mutter kochte den Brotaufstrich nach einem alten Familienrezept mit viel Zucker und Alkohol.
Natürlich würde er gleich wie immer zur Arbeit gehen, er war schließlich keine Pussy, die vor Problemen davonlief. Er hatte seine Doktorandenhand auf ein Professorinnenknie gelegt und war nicht dafür zur Ordnung gerufen worden. Das bedeutete doch... egal. Der Fall selbst interessierte ihn, er passte akkurat in seine Dissertation »Biochemische Prozesse und ihre Abweichungen nach der Begattungstheorie von Ferdinand Selge«. Und auch die Sache mit Dora... nein, das war gegessen. Lars würde Frau Professor seine Gedächtnisnotizen aushändigen, die er nach seiner nächtlichen Heimkehr mit zitternder Hand zu Papier gebracht hatte. Es wäre ein peinlicher Moment, gewiss, doch andererseits eine Probe aufs Exempel. Wie würde Madeleine Vulpius reagieren? Fachlich-nüchtern? Selbstverständlich. Aber nicht auch mit einem Hauch emotionaler Befangenheit? Darauf hoffte Lars.
Als er das Haus verließ – er hatte unten an Bergengruens Tür gehorcht und die rüde Schnarchmelodie des unverdient zu höchsten sexuellen Ehren Gelangten vernommen – ,war Lars beinahe beschwingt und vorfreudig. Im Bus ignorierte er die begehrlichen Blicke jener etwas graumäusigen Germanistikstudentin, die ihm einmal auf einer Party unaufgefordert ihr Nippelpiercing gezeigt hatte. Das war einfach unter seinem Niveau.
Dahinten – die schon wieder. Diese Simone. Sie sah so demonstrativ an ihm vorbei, dass es beinahe schon
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