Die Vermessung der Lust (German Edition)
anderes denken, das Gulasch zum Beispiel. Es gelang ihm nicht. Das Mädchen hatte ihn angelächelt, es kannte seinen Namen, vielleicht arbeitete sie schon lange in dem Geschäft und war ihm bisher nur noch nicht aufgefallen. Und sie interessierte sich für ihn?
Er musste Madeleine fragen, unter welchen Bedingungen sich junge Mädchen für ältere Männer interessierten, was sie an ihnen attraktiv fanden und warum. Rein theoretisch natürlich. Er sah noch ganz gut aus, nicht wie siebzig, höchstens wie fünfundsechzig. Nein, er würde Madeleine nicht fragen, das war völlig absurd.
*
Sie bedauerte ihn. So ein netter Mann. Bisschen alt, nun ja, aber man betrog so einen Mann nicht und schon gar nicht mit einem wie diesem... sie wusste nicht einmal seinen Namen... diesem Scheusal in der Wohnung gestern Abend.
Ob Vulpius gemerkt hatte, dass Simone seinen Namen kannte? Das war unvorsichtig von ihr gewesen, einfach so rausgerutscht. Die Nervosität, ein besonderer Tag eben.
Heute war ihre Premiere im Gemüseladen, es war ein guter Job und sie brauchte das Geld. In aller Frühe zur Uni, das Skript für die Vorlesung »Klinische Psychologie II« besorgt, mit dem Bus zurück in die Stadt. Gott sei Dank, ohne Schiffler über den Weg zu laufen und zum Objekt seiner gierigen Augen und seines noch gierigeren Gehirns zu werden.
Simone fühlte sich wie gerädert. Erst spät in der Nacht war sie heimgekommen, musste wohl zwei, drei Stunden oder noch länger an der Bushaltestelle gesessen haben, war eingeschlafen und aufgewacht, als ein Auto vorbeifuhr, vielleicht die Professorin, vielleicht Lars, vielleicht beide. Dann hatte sie an Dora gedacht und geseufzt. Eine halbe Stunde Fußmarsch durch die Nacht, an den Nutten im Park vorbei. Dora, immer wieder Dora, vor allem später, als sie ins Bett fiel und zu erschöpft war, um einzuschlafen. Das war Irrsinn, sie kannte sie doch gar nicht richtig. Wie konnte sie sicher sein, dass Dora die Frau ihres Lebens sein würde? Keine Ahnung, aber sie war sich sicher. Dora.
Eine Sekunde lang hatte Dora im Gemüseladen überlegt, ob sie Vulpius über die Geschehnisse in der Wohnung des Hässlichen und dann im Park mit Lars ins Bild setzen sollte. Nein, ging sie nichts an. Sie verkaufte hier Obst und Gemüse, sie gehörte zu einer anderen Welt, sie stand am Rande und beobachtete nur.
Passiv war sie schon immer gewesen. Ein Kind mit großen Augen und einem verschlossenen Mund, eins von vierzehn Mädchen in ihrer Klasse und das dreizehnte, das entjungfert wurde. Nur Eugenie Mahlke hatte sie hinter sich lassen können, kein Kunststück, denn deren Eltern waren Zeugen Jehovas.
Bisweilen erinnerte sich Simone noch daran, jetzt zum Beispiel, wie ein schlechter Film surrte das durch ihren Kopf, während sie Mohrrüben abwog. Mein Gott, was für ein schlechter Fick! Konstantin, eine Zufallsbekanntschaft, der ihr mehr aus Verlegenheit den Nacken geküsst hatte, was für Simone eine ernste Vorstufe des Geschlechtsverkehrs war. Sie konnte Nackenküssen nicht widerstehen, ganz gleich ob von einer Frau oder einem Mann. Deshalb auch trug sie jetzt zumeist Rollkragenpullis.
Küsse auf die nackte Haut direkt unter dem Haaransatz. Unglücklicherweise hatte Konstantin genau die richtige Stelle getroffen, wie er später gestand nur, weil er es nicht wagte, sie auf den Mund zu küssen. Irgendwie waren sie im Werkzeugkeller des Hauses von Konstantins Familie gelandet, dem einzigen Ort, an dem man fünf Minuten ungestört sein konnte. Länger hatten sie auch nicht gebraucht. Wie die Untersuchung beim Frauenarzt, dachte Simone und spürte die Werkbank im Kreuz, du brauchst halt keine Versichertenkarte und keine Überweisung. Ein Junge drängt sich gegen deinen entblößten Schoß, der Junge keucht und beginnt zu schwitzen, er hält die Augen geschlossen, seine Linke quetscht deine rechte Brust zusammen, seine Rechte stützt sich an der Werkbank ab, dann zuckt er plötzlich, sagt »Moment« und löst sich von dir.
Sie hatten die abenteuerliche Methode des Coitus interruptus gewählt, vor allem weil Konstantin sich nicht traute, Gummis an der Tankstelle zu kaufen. Er vollendete den Akt mit drei, vier geübten Handgriffen, sie spendierte ein Papiertaschentuch, um die Spuren zu beseitigen, zog sich Höschen und Jeans wieder hoch. Wenigstens würde sie nicht als Jungfrau sterben, der Albtraum aller sechzehnjährigen Mädchen.
Und sonst? Nichts sonst. Gut zu wissen, wie es ablief. Noch besser zu wissen, dass es
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