Die Vermessung der Lust (German Edition)
»Stress?« »Ach, es geht.« Und ja, die Schweinelende schmeckte vorzüglich, wunderbar, perfekt. »Die Kartoffeln halt...«, sagte Konrad entschuldigend. »Dafür ist der Rosenkohl genau richrig«, tröstete Madeleine. Die Kartoffeln waren wirklich eine Spur zu zerkocht.
Erstaunlicherweise hatte Madeleine großen Appetit entwickelt, was daran liegen konnte, dass Konrad zu höflich war, seine essende Frau mit komplizierten Fragen zu belästigen und es sich also als taktisch sinnvoll erwies, so lange zu essen, bis Konrad wieder die Augen zufielen. Sie gaben sich noch einen Kuss, »Ich geh mal ins Bett«, und als Madeleine endlich unter ihrer Decke lag, begann sie zu weinen. Still, nicht übermäßig viele Tränen produzierend, aber sie weinte, was sie zuletzt getan hatte, als dieser Markus im Kindergarten ihrer Barbie ein Bein ausgerissen hatte. Danach wischte sie sich das Gesicht trocken und schlief ein.
Jetzt, am Morgen danach, saß sie an ihrem Schreibtisch und starrte auf das Fenster gegenüber. Die Doktoranden waren noch nicht anwesend, kein Wunder, soeben zeigte die Uhr auf Punkt acht. Sie würde Dora glücklich machen mit ihrer Einwilligung zu den Schwulentests, wie sie das Projekt für sich getauft hatte, und Lars – nun ja, ihm gegenüber würde sie sich nichts anmerken lassen. Seine Hand auf ihrem Knie, das hatte ihr sogar gutgetan. Nicht sexuell, oh nein. Irgendwie beruhigend war das gewesen, der junge Mann besaß ein Talent für psychologische Handgriffe, um seine Patientinnen – Madeline kicherte. Patientin? Hm, so konnte man das mit etwas Phantasie nennen.
War sie also krank? Wenn ja, dann war die Affäre mit Bergengruen nichts anderes gewesen als ein Löffel Rhizinusöl oder irgendeine andere übelschmeckende Medizin. Es heilte nicht die Krankheit, sorgte aber dafür, dass sie erträglich wurde. Nur – was genau war diese Krankheit?
Die letzte Nacht war Madeleine tatsächlich wie ein wirrer Fiebertraum erschienen, in dem man die Bakterien aus sich herausschwitzt. Sie beschloss, die kleine Unpässlichkeit zu vergessen. Und wenn sie wiederkäme? Man musste vorbeugen. Lars? Einmal im Monat eine kleine Kur mit ihrem Doktoranden, der - das hatte Madeleine überrascht – in sie verliebt war. Er hatte seine Hand auf ihr Knie gelegt, eine halbe Stunde lang, und nach spätestens fünfzehn wünschte sich Madeleine diese Hand ein wenig beweglicher. Nein, es hatte nicht wirklich etwas mit Lust zu tun. Aber wenn man früher als Kind eine bittere Medizin hatte schlucken müssen, gab es danach von der Mama einen leckeren Schokokeks. Und das war gestern Nacht Lars gewesen. Ein süßer Neutralisator gegen den schlechten Geschmack in ihrem Mund und anderswo.
Sie nahm ihr Diktiergerät und begann mit der Analyse in eigener Sache. Die Stimme als Aphrodisiakum. Es musste etwas mit den Schallwellen und ihren Frequenzen zu tun haben, sie waren in der Lage gewesen, etwas in Madeleine zum Schwingen zu bringen. Lars' Stimme brachte nichts in ihr zum Schwingen, obwohl seine Stimme unendlich angenehmer war als die Bergengruens. Ob es sinnvoll wäre, einen Physiker, der etwas von Akustik verstand, zu Rate zu ziehen? Gab es dafür eventuell Fördermittel, fachübergreifende Forschungen vielleicht? Sie kannte da diesen Professor Früheich...
Jemand klopfte an die Tür und noch bevor Madeleine »Herein« sagen konnte, wusste sie, wer davor stand. Lars. »Herein!« Die Tür ging zögernd auf, es war Dora. Aha. Sie sah verschlafen aus, als hätte sie die Nacht in wachem Zustand verbracht. Nun ja, warum auch nicht. Sie war jung und einigermaßen attraktiv.
»Entschuldigung, ich wollte fragen...«
*
Madeleine machte eine einladende Handbewegung und wies auf den Besucherstuhl. Es war nicht üblich, dass die Chefin ihre Mitarbeiter zum Sitzen aufforderte. Stand etwa das bevor, was man »ein ernstes Gespräch« nennt? Hatte die Professorin von den gestrigen Verfehlungen im Doktorandenzimmer Wind bekommen? Unwahrscheinlich. Das heißt: Beim Orgasmus musste Dora ziemlich laut gewesen sein. Würde die Volkshochschule einen Kurs »Leiser Orgasmus in drei Schritten« angebieten, sie hätte keine Sekunde gezögert, sich anzumelden.
»Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Liebe.«
Mein Gott! Es musste sich wirklich um ein ernstes Gespräch handeln. Dora trat vorsichtig an den Schreibtisch und setzte sich auf den Rand des Stuhls. Souverän sah das nicht aus, aber ihr war auch nicht danach.
»Wegen gestern...«
Dora senkte den Kopf.
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