Die Vermessung der Lust (German Edition)
Sozialhilfe kein exotisches Land. Niemand in ihrer Familie hätte je mehr als einen Hauptschulabschluss besessen, sie war die erste, die sich hochgearbeitet hatte – oder es zumindest versuchte. Ihr Vater war der schulischen Laufbahn seiner Tochter gegenüber immer misstrauisch gewesen, für ihn waren gebildete Menschen entweder Götter und Dämonen, auf jeden Fall so etwas wie Aliens, deren Verhalten ihn befremdete. In diesem Moment, hinter dem Baum versteckt, verstand Simone ihren Vater gut. Der Mann hatte vollständig Recht. Diese unfassbare Nutte.
Sie wartete jetzt weitere Taten des Doktoranden, doch nichts geschah. Die Hand blieb auf dem Knie, wanderte weder unter den Rock noch blusenaufwärts zu unzweifelhaft wohlgeformten Brüsten von Madeleine Vulpius, die irgendetwas sagte, von dem Simone nur die Wörter »Missionarsstelllung« und »Billiggummis« zu verstehen glaubte. Schilderte sie etwa das Procedere des vor kurzem ausgeübten Geschlechtsverkehrs? Oder hatte sie eine Vision des bevorstehenden? Und wenn ja, wo sollte der stattfinden? Hier auf der Bank? Hinter einem Busch? Es war kühl geworden, Simone fröstelte, das Kreuz hatte wieder zu schmerzen begonnen. Sie würde verschwinden, es war absolut lächerlich, was sie hier tat, lächerlich und peinlich und moralisch nicht okay. Sollten die es doch treiben, ging sie ja wirklich nichts an.
Vorsichtig verließ sie ihren Platz, schlich in Indianerart davon, weg zum Eingang des Parks und dachte mit Schrecken an den Nachhauseweg. Sie würde zu Fuß gehen müssen, das hatte sie nun davon. Der Gedanke daran ließ sie schier verzweifeln. Sie ging ein paar Meter und setzte sich in das Wärtehäuschen der Bushaltestelle, streckte die Beine von sich und seufzte.
Der Tag danach
Dora hatte geträumt. Sie lag auf einer Grasnabe, die wie ein Pfeil auf fleischfarbenem Marmor wuchs, und aus der ein Bächlein sprudelte. Es wand sich ein Stück über den Stein und stürzte dann in einen dunklen Abgrund.
Man musste nicht Freuds »Traumdeutung« gelesen haben (oder gar wie Dora ein Proseminar darüber absolviert), um sofort zu wissen, was einem dieser Traum sagen wollte. Der fleischfarbene, leicht gewölbte Marmor war der Venushügel, die Grasnarbe die zu einer sogenannten Landebahn zurechtrasierten Schamhaare und das Bächlein... nun ja. Dass es in einen Abgrund stürzte, musste Dora natürlich zu denken geben, obwohl sie Träume gemeinhin nicht für bare Münze nahm. Irgendwelche Synapsen im Gehirn spielten beim Schlafen verrückt und drehten irrationale Filmchen, die selbst bei RTL keine Zuschauer gefunden hätten. Und was sollte schon passieren, wenn man mit einer Frau schlief? Verwerflich war es nicht, besonders gefährlich auch nicht. Im Gegenteil, es hatte durchaus Vorteile. Keine Verhütung, keine möglichen Potenzprobleme (Dildos mit eingebauter Erektionsschwäche, vielleicht per Zufallsgenerator erzeugt, gab es noch nicht auf dem Markt. Nicht mal in Japan.), man konnte stolzerhobenen Hauptes am CSD teilnehmen und hatte immer jemanden, der die Wäsche bügeln konnte, wenn man selbst dazu keine Lust verspürte.
Während sich Dora duschte und ihren Traum deutete (vielleicht war das keine Grasnarbe, sondern... irgendetwas anderes), dachte sie zwischendurch mit Schrecken und Entzücken zugleich an ihr Treffen mit Simone. Was würde passieren? Möglicherweise – nichts. Man trank einen Cocktail oder zwei, plapperte ein wenig Smalltalk und dann ging man auseinander. Oder man trennte sich als gute Freundinnen, Handynummerntausch inklusive, um sich fortan ständig die intimsten Geheimnisse und die geilsten H & M – Sonderangebote zu simsen. Oder man landete im Bett. War auch noch keine Katastrophe, man konnte ja einfach nur schmusen, sich feste drücken und im extremsten Fall auf die Stirn küssen.
Oder man tat genau dies und auf einmal brachen alle Dämme und man fiel voller Lust übereinander her. Typisch, dass sie sich das vorstellte, als der Ladyshaver ihren Landestreifen in Form brachte. Hm. Also wie Marmor sah der Rest wirklich nicht aus. Sie würde sich sorgfältig eincremen müssen, um keine Pickel zu kriegen.
*
Es war so gekommen wie erwartet. Konrad schlafend vor dem Fernseher, eine Quizshow, Frage: Welcher Fluss mündet in den Rhein? Da es Orinoco, Nil und Mississippi nicht sein konnten, blieb nur die Mosel.
Madeleine hatte ihm einen Kuss auf die Stirn gegeben, Konrad war erwacht und sofort aufgestanden, um das Essen aufzuwärmen. »Müde?« »Ja.«
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