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Die Vermessung des Körpers

Die Vermessung des Körpers

Titel: Die Vermessung des Körpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Clegg
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»zu Berge« stehen, weil wir uns fürchten. Auch hier handelt es sich um eine einst nützliche Reaktion aus grauer Vorzeit. Viele Säugetiere plustern ihr Fell auf, wenn sie sich bedroht fühlen, um größer und damit gefährlicher zu erscheinen. (Bringen Sie einmal einen Hund und eine Katze zusammen, dann können Sie bei der Katze die tierische Variante dieser Reaktion in vollem Ausmaß bewundern. Sie macht sogar einen Buckel, um noch größer zu erscheinen.) Offensichtlich verfügten auch wir Menschen einmal über eine solche Abwehrreaktion, doch sie ist durch unsere relative Unbehaartheitwirkungslos geworden. Wir spüren zwar noch, dass uns die Haare zu Berge stehen, größer und kräftiger erscheinen wir dadurch aber leider nicht mehr.
    Unser mangelnder Schutz durch ein natürliches Haarkleid wurde mir schmerzlich bewusst, als ich neulich mit meinem Hund Gassi ging. Es war ein kalter Tag, und ich war mit meinem Kurzarmhemd zu dünn angezogen für dieses Wetter. Ich fröstelte, und meine Turnschuhe waren vom nassen Gras so durchweicht, dass sie beim Gehen ein schmatzendes Geräusch von sich gaben. Als wir uns durch ein Gatter vom einen Feld zum nächsten zwängten, streifte ich dabei mit beiden Armen ein hervorhängendes Büschel Brennnesseln. Die Hündin hingegen war mit ihrem dicken Fellkleid und ihrer Hornhaut an den Pfoten sowohl dem Wetter aus auch der Vegetation gegenüber unempfindlich. Sie schien für das Überleben unter widrigen natürlichen Umständen viel besser gewappnet als ich.
    Ich fragte mich, warum menschliche Wesen so schlecht ausgestattet worden sind, um gegen Unbill und Gefahren der Natur bestehen zu können. Wir wissen, dass unsere Urahnen ein gutes, dickes Fell besaßen, das sie schützte – so wie die Menschenaffen heute noch. (Heutige Menschenaffen wie Schimpansen oder Gorillas sind übrigens nicht unsere Vorfahren – dieser Fehler wird immer noch häufig gemacht, wenn von ihnen die Rede ist.) Intuitiv leuchtet es erst einmal nicht ein, dass die Frühmenschen dieses praktische Fell eingebüßt haben sollen.
    Freilich ist es ein Missverständnis, dass die Evolution stets nur unser Wohlergehen im Sinn hat. Die Evolution hat überhaupt keinen Sinn, geschweige denn irgendeine Ahnung davon, was für uns gut oder schlecht ist. Die Evolution funktioniert in der Regel durch die schrittweise Auslese feinster Abweichungen, welche das Überleben und die Reproduktionsfähigkeit einzelner Mitglieder einer Spezies verbessern. Sie verschafft sich keinen Überblick und denkt: »Das ist gut, das behalte ich bei.« Trotz alledem kam es mir unwahrscheinlich vor, dass der Verlust eines wärmenden und schützenden natürlichen Fells einen evolutionären Vorteil bieten sollte.
    Doch nur weil uns die Evolution ein bestimmtes Blatt Karten austeilt, bedeutet das noch lange nicht, dass jede einzelne genetische Karte, die wir auf der Hand haben, auch zu unserem Vorteil ist. Es muss keinen offensichtlichen evolutionären Vorteil geben, nur weil wir ein bestimmtes Wesensmerkmal herausgebildet haben. Das Ganze könnte ebenso gut ein Nebeneffekt einer anderen evolutionären Entwicklung sein. Zum Beispiel brechen sich viele Vögel sehr leicht die Flügel, weil die Knochen dünn und hohl sind. Schwache Knochen zu haben, ist an sich nichts Gutes – im Gegenteil, es ist ziemlich schlecht fürs Überleben. Trotzdem war es hier notwendig, das Gewicht des Vogels so weit zu reduzieren, dass er fliegen konnte.
    Es bestehen zahlreiche Möglichkeiten, warum es aus evolutionärer Sicht eine wichtige Funktion erfüllen konnte, dass wir einen Großteil unserer Körperbehaarung verloren haben. So könnte es beispielsweise sein, dass unsere Urahnen mehr schwitzen mussten, als sie vom Wald in die Steppe zogen – mit weniger Haaren schwitzt es sich angenehmer, weil der Schweiß auf der freiliegenden Haut besser verdunstet. Ebenso könnte es eine Reaktion auf eine Zunahme von Parasiten sein (obwohl sich alle großen Menschenaffen damit herumschlagen müssen). Eine der exotischsten Erklärungen ist, dass der Frühmensch teilweise im Wasser lebte und dank seiner dünneren Körperbehaarung besser schwimmen konnte (viele semiaquatische Tiere sind aber behaart). Die Erklärung, die in meinen Ohren am plausibelsten klingt, ist jedoch, dass der Haarverlust ein zufälliger Nebeneffekt war, ganz so wie jene gefährlich dünnen Vogelknochen.
Wenn du dir Verbündete schaffen willst, dann lass dir die Haare ausfallen
    Vor etwa 100 000 Jahren

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