Die Vermessung des Universums: Wie die Physik von morgen den letzten Geheimnissen auf der Spur ist (German Edition)
Naturwissenschaft ohne weiteres vollkommen koexistieren können.
Aber die Religion ist mehr als eine Lebensform oder eine Philosophie. Die meisten Religionen beziehen sich auf einen Gott, der auf geheimnisvollen Wegen, die über das hinausgehen, was die Menschen beschreiben können oder was die Wissenschaft zulässt, in den Lauf der Welt eingreift. Eine solche Überzeugung bringt selbst für aufgeschlossenere religiöse Menschen, die wissenschaftliche Fortschritte begrüßen, unvermeidlich ein Dilemma im Hinblick darauf mit sich, wie man eine solche Aktivität mit den Diktaten der Wissenschaft versöhnen soll. Selbst wenn man einen Gott oder eine spirituelle Kraft einräumt, die früher einen Einfluss als erster Beweger ausgeübt haben könnte, ist es doch von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus unvorstellbar, dass Gott auch weiterhin intervenieren könnte, ohne eine materielle Spur seiner Handlungen zu hinterlassen.
Um diesen Konflikt zu verstehen – und zu einer besseren Einschätzung des Wesens der Wissenschaft zu gelangen –, müssen wir den materialistischen Standpunkt besser verstehen, der besagt, dass sich die Naturwissenschaft auf ein materielles Universum bezieht und dass aktive Einflüsse ein physikalisches Gegenstück haben. Zur naturwissenschaftlichen Sichtweise gehört wesentlich die in Kapitel 1 eingeführte Vorstellung, dass wir die Bestandteile der Materie auf jeder Strukturebene bestimmen können. Was in größeren Maßstäben existiert, besteht aus Material, das in kleineren Maßstäben vorkommt. Obwohl wir nicht unbedingt alles, was es in größeren Maßstäben gibt, dadurch erklären können, dass wir alle zugrunde liegenden physikalischen Elemente kennen, sind diese Bestandteile dennoch von entscheidender Bedeutung. Der materielle Aufbau von Phänomenen, die unser Interesse erwecken, wird zwar nicht immer für ihre Erklärung ausreichen, aber die physikalischen Gegenstücke sind für ihre Existenz ausschlaggebend.
Manche Menschen wenden sich der Religion zu, um schwierige Fragen zu beantworten, von denen sie nicht glauben, dass die Naturwissenschaft sie je lösen wird. In der Tat bedeutet der materialistische naturwissenschaftliche Standpunkt nicht, dass wir eine Garantie haben, alles zu verstehen – jedenfalls gewiss nicht dadurch, dass wir einfach nur die elementaren Bausteine verstehen. Durch die Einteilung des Universums in verschiedene Größenmaßstäbe erkennen die Naturwissenschaftler an, dass wir wahrscheinlich nicht alle Fragen auf einmal beantworten werden und dass die fundamentale Struktur, auch wenn sie entscheidend sein mag, doch nicht notwendigerweise eine unmittelbare Antwort auf alle unsere Fragen enthält. Selbst wenn wir mit der Quantenmechanik umzugehen wissen, verwenden wir immer noch Newtons Gesetze, da sie uns sagen, wie sich eine Kugel durch das Gravitationsfeld der Erde bewegt, und zwar so, dass diese Vorhersage nur mit großen Schwierigkeiten von einer Darstellung abgeleitet werden könnte, die sich ausschließlich auf Atome bezieht. Die Kugel braucht zwar Atome, um existieren zu können, aber die atomare Darstellung nützt uns nichts bei der Erklärung der Flugbahn der Kugel, obwohl sie natürlich damit kompatibel ist.
Diese Lektion lässt sich auf viele Phänomene übertragen, die uns allen in unserem Alltagsleben begegnen. Häufig können wir die zugrunde liegenden Einzelheiten oder die Zusammensetzung ignorieren, auch wenn das Material von entscheidender Bedeutung ist. Wir brauchen die innere Funktionsweise eines Autos nicht zu kennen, um damit zu fahren. Wenn wir Essen kochen, beurteilen wir, ob der Fisch Schuppen hat, ob die Mitte eines Kuchens trocken ist, ob die Haferflocken breiig sind oder ob das Soufflé aufgegangen ist. Aber falls wir keine molekulare Gastronomie betreiben, beachten wir selten die verborgene atomare Struktur, die für diese Veränderungen verantwortlich ist. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass substanzlose Nahrung nicht besonders zufriedenstellend ist. Die Zutaten eines Soufflés haben absolut keine Ähnlichkeit mit dem Endprodukt (siehe Abbildung 12). Trotzdem sind die Bestandteile und Moleküle Ihres Essens, die Sie ohne weiteres ignorieren können, für seine Existenz notwendig.
Abb. 12: Ein Soufflé unterscheidet sich völlig von den Zutaten, aus denen es besteht. Ebenso kann die Materie ganz andere Eigenschaften haben – oder sogar den Anschein erwecken, dass sie ganz anderen physikalischen Gesetzen
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