Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
ich mit einer gewissen Genugtuung. Mrs. Hunt gehört zu den Lieblingslehrerinnen der Schule– immer warmherzig und freundlich und bei jedermann beliebt. Aber ich vertraue ihr nicht. Ich brauche keine Hilfe. Normalerweise verziehe ich mich immer aus dem Klassenzimmer, bevor sie dazukommt, mich anzusprechen.
Mum gibt sich alle Mühe, bei ihr gut Wetter zu machen. » Das ist wirklich bedenklich. Aber ich bin mir ganz sicher, dass sie sich künftig mehr anstrengen wird. Habe ich Recht, Sarah?«
Ich starre Löcher in die Luft. Ich bin Eleanor Price. Das Gespräch hat nichts mit mir zu tun.
» Sie wirkt immer so verschlossen«, flüstert Mrs. Hunt und heftet gespannt ihre Augen auf Mums Gesicht. » Gibt es bei Ihnen zu Hause vielleicht Probleme, von denen ich wissen sollte?«
Sag es ihr, will ich schreien. Bitte erzähl ihr, dass du trinkst und dass wir uns deswegen ständig streiten.
Linkisch hebt Mum eine Hand und streicht sich das Haar aus der Stirn. Dabei rutscht ihr Ärmel zurück, und in Mrs. Hunts Gesicht spiegeln sich Schreck und Neugier. Mums Unterarm ist übersät von blauen Flecken. Ich weiß, dass sie noch mehr von der Sorte hat, noch mehr Spuren. Sie ist eine ziemlich ungeschickte Alkoholikerin und fällt oft hin.
Ich warte darauf, dass sie ihr das erklärt, aber noch bevor Mum etwas sagt, beugt sich meine Lehrerin zu ihr hinüber. » Es gibt Adressen, an die Sie sich wenden können, Frauenhäuser. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine Telefonnummer…«
» Das ist nicht nötig«, weicht Mum aus.
» Aber wenn Sie häuslicher Gewalt ausgesetzt sind– wenn Ihr Mann…«
» Bitte.« Mum hebt abwehrend die Hand. » Nicht vor Sarah.«
Jetzt höre ich aufmerksam zu. Sie kann Mrs. Hunt doch nicht in dem Glauben lassen, dass Dad an ihren Verletzungen schuld ist. Das kann sie nicht tun.
» Es gibt eben ein paar Dinge, mit denen ich mich abfinden muss, aber die will ich von ihr fernhalten«, sagt sie mit gesenkter Stimme. » Sie weiß nichts davon…«
» Aber das geht doch nicht!« Mrs. Hunts Finger versinken in ihrem Gesicht, als wären die Wangen aus Teig. » Wie können Sie das vor ihr verbergen?«
Mum schüttelt den Kopf. » Wir bekommen das schon hin, Mrs. Hunt. Wir schaffen das schon. Es ist schon viel besser geworden zwischen uns, wirklich, viel besser. Und Sarah schafft das auch. Haben Sie vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich über ihre Probleme zu informieren.« Sie steht auf und nimmt ihre Handtasche. » Ich versichere Ihnen, Sarah steht bei uns an allererster Stelle.«
Mrs. Hunt nickt, und ihre Augen sind feucht. » Falls ich irgendetwas für Sie tun kann…«
» Sage ich Ihnen Bescheid.« Mum lächelt tapfer und sagt zu mir: » Komm Sarah, wir gehen nach Hause.«
Ich spreche erst wieder, als wir das Schulhaus verlassen haben und auf der Straße sind, weit genug weg von dem Gedränge am Schultor.
» Warum hast du Mrs. Hunt nicht die Wahrheit gesagt?«
» Das geht sie nichts an«, erwidert Mum schroff.
» Aber jetzt glaubt sie, dass Dad– ich meine, sie hat es doch so gesagt, als ob sie glaubt, dass Dad das war.«
» Ja und?« Mum fährt herum und sieht mich wütend an. » Weißt du, dein Vater ist ganz bestimmt nicht perfekt, auch wenn du dir das vielleicht anders vorstellst.«
» Aber das war er nicht«, sage ich und zeige auf ihren Arm. » Das warst du selber.«
» Eines Tages«, sagt Mum mit butterweicher Stimme, » wirst du verstehen, dass mir dein Vater eine Menge Verletzungen zugefügt hat, auch wenn man davon keine blauen Flecken sieht.«
» Das glaube ich dir nicht.«
» Glaub doch, was du willst. Aber es ist die Wahrheit.«
Mir stehen die Tränen in den Augen, und mein Herz klopft ganz schnell. » Ich wünschte, du wärst tot.« Das meine ich so, wie ich es sage.
Für einen Moment zuckt Mum zusammen und fängt dann an zu lachen. » Eines solltest du dir merken, meine liebe Sarah: Wünsche gehen nur selten in Erfüllung.«
Damit hat sie ausnahmsweise einmal Recht, das weiß ich nur allzu genau.
12
Als wir in unsere Straße einbogen, schrie ich überrascht auf: Schon zum zweiten Mal an diesem Tag stand die Sackgasse voller Polizeifahrzeuge.
Ohne den Kopf zu wenden, kommentierte Blake knapp: » Wir machen eine Hausdurchsuchung.«
» Ach so? Ich dachte, so etwas erledigen Sie um fünf Uhr morgens?«
» Nur wenn wir denken, wir könnten jemanden im Schlaf überraschen«, erklärte Vickers schräg über seine Schulter hinweg. » Wir sind ziemlich
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