Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
überhaupt an die Tür gekommen. Wütend blinzelte ich meine Tränen weg. Ich hatte Heimweh nach einem Ort, den es nicht gab, und sehnte mich nach einer Mutter, die ich eigentlich nicht kannte. Ich war mutterseelenallein.
In diesem Augenblick donnerte Smith die Beifahrertür mit solcher Wucht zu, dass das Auto in den Achsen schaukelte, und Freeman sagte zu ihm: » Die hatte ich mir aber ganz anders vorgestellt.«
» Stimmt, sie sieht wirklich überhaupt nicht danach aus«, pflichtete Smith ihm bei. » Das heißt aber noch lange nicht, dass sie’s nicht war.«
Mein Gesicht brannte. » Zufälligerweise war ich es tatsächlich nicht. Das ist alles nur ein Missverständnis.«
» Das sagen sie alle.« Smith klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. » Los, beeilen wir uns.«
Der Motor sprang an, und ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück. Eigentlich überraschte es mich nicht, dass sie mir nicht glaubten. Das konnte ich wirklich nicht von ihnen erwarten, wenn es mir schon nicht gelungen war, Vickers und Blake zu überzeugen, die mich um einiges besser kannten.
» Sie irren sich gewaltig«, sagte ich, während das Auto auf die Hauptstraße bog, im Grunde nur, um das letzte Wort zu behalten. Doch bei all meiner zur Schau gestellten Selbstsicherheit konnte ich nicht verhehlen, dass ich Angst hatte. Jetzt blieb mir zur Verteidigung nur noch, meine Unschuld zu beteuern, und mich beschlich das ungute Gefühl, dass das nicht ausreichte.
1996
Seit vier Jahren vermisst
» So, jetzt sind Entscheidungen gefragt. Welche Eissorte soll es sein?«
Ich tue so, als ob ich überlege. » Hmm. Ich glaube, vielleicht… Schoko?«
» Schoko? Wirklich ungewöhnlich«, kommentiert Dad. » Sicher ist es ein bisschen unkonventionell, aber ich werde wohl– ja, ich nehme das Gleiche. Bestimmt eine gute Wahl.«
Wenn wir zusammen Eis essen, gibt es eigentlich immer Schokoladeneis. Das ist so eine Art ungeschriebenes Gesetz. Selbst wenn ich einmal Appetit auf eine andere Sorte hätte, würde ich sie auf keinen Fall bestellen, weil Dad dann sicher enttäuscht wäre.
Er nimmt das Eis entgegen, und wir spazieren hinunter zum Hafen. Es ist ein strahlender, heißer Tag im Hochsommer, und auf der Promenade drängen sich Massen von Tagestouristen wie wir. Ein Stück entfernt entdecke ich eine freie Bank und renne los, um sie zu besetzen, ehe sie uns jemand anders wegschnappt. Dad kommt langsam hinterhergeschlendert. Er leckt sein Eis ganz systematisch, sodass oben eine Spitze entsteht.
» Los, schnell«, rufe ich ihm zu, weil ich Angst habe, dass sich jemand dazusetzen könnte, wenn ich ganz allein auf der Bank warte. Aber das bewirkt allenfalls, dass er noch langsamer geht. Er bummelt jetzt ganz unverhohlen, und ich schaue frustriert weg. Manchmal bin ich entsetzt, wie kindisch Dad in seinem Alter noch sein kann. Unreif ist wohl das richtige Wort dafür. Es kommt mir beinahe so vor, als sei ich die Erwachsene und er das Kind.
» Gut gemacht«, sagt Dad und lässt sich endlich neben mir nieder. » Das ist wirklich perfekt.«
Und er hat Recht. Das Meer schimmert blausilbern, und der Kiesstrand leuchtet weiß in der Sonne. Über uns kreisen kreischend die Möwen. Um uns herum herrscht Gedränge, aber mit Dads Arm um meine Schultern fühle ich mich wie in einer Seifenblase. Niemand kann uns etwas anhaben. Ich schlecke mein Eis und kuschle mich selig an Dads Seite. Ich liebe unsere Ausflüge, die wir nur zu zweit unternehmen. Auch wenn ich es Dad niemals so sagen würde, bin ich heilfroh, dass Mum nie mit dabei ist. Sie würde alles verderben. Sie würde bestimmt nicht entspannt auf der Bank sitzen, Eis essen und über zwei dicke, nasse Hunde lachen, die in der Brandung herumtoben.
Nachdem wir ein paar Minuten so dagesessen haben und ich an meiner Eiswaffel knabbere, nimmt Dad seinen Arm von meinen Schultern, legt ihn auf die Banklehne und sagt: » Weißt du, mein Schatz, ich muss dir etwas sagen.«
» Was denn?« Ich erwarte einen albernen Witz oder so.
Dad seufzt und fährt sich mit der Hand über das Gesicht, ehe er weiterredet. » Deine Mutter und ich– also, wir kommen ja schon seit Längerem nicht mehr so gut miteinander aus. Und deshalb sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es wohl das Beste ist, wenn wir uns trennen.«
Ich starre ihn fassungslos an. » Wie, trennen?«
» Wir lassen uns scheiden, Sarah.«
» Scheiden?« Ich muss aufhören, ständig seine Worte zu wiederholen, denke ich sinnloserweise. Aber mir fällt nichts
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