Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
aus meinem persönlichen Besitz in dieses Haus gelangt waren. Gut, Danny war also derjenige, der mich überfallen und mir die Handtasche geraubt hatte. Das erklärte zwar, wer es getan hatte, aber nicht, warum. Und die anderen Gegenstände, von denen ich genau wusste, dass sie nicht in meiner Tasche gewesen waren und die ich schon wochen- oder monatelang vermisst hatte– wieso waren sie hier?
Blake war hinausgegangen, und als er wiederkam, nickte er Vickers zu. » Noch keine Presse in Sicht. Ich würde mich aber beeilen– die werden nicht lange brauchen, um mitzukriegen, was ihnen gerade entgeht.«
Was ihnen gerade entgeht. Ich spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Was ihnen entging, war eine Verhaftung. Ein leibhaftiger Verdächtiger, der zum Verhör abgeführt wurde. Dabei wurde mir nur langsam klar, dass ich höchstwahrscheinlich in dem Haus stand, in dem Jenny gestorben war.
Smith drängte zum Gehen. » Los jetzt. Wir müssen uns beeilen.«
Ohne mich noch einmal nach Blake und Vickers umzuschauen, ob sie uns folgten, trat ich aus dem dämmerigen, feuchtkalten Flur hinaus in die Mittagssonne und war für einen Moment völlig geblendet. Auf einen Schlag setzte ein seltsames Wispern ein. Ein Geräusch wie Blätterrascheln in den Bäumen. Das Geräusch wurde immer lauter und menschlicher. Am Ende der Sackgasse stand fast die gesamte Nachbarschaft versammelt– kleine Kinder, die von ihren Müttern schützend an den Schultern festgehalten wurden; ältere Herrschaften, die, um ihrer Einsamkeit zu entfliehen, dreimal am Tag einkaufen gingen; Frauen mittleren Alters mit säuerlicher, argwöhnischer Miene. Ich vermied es, ihnen in die Augen zu sehen, obwohl ich körperlich spüren konnte, wie sie mich mit stumpfsinniger Neugier angafften. Der Ärger lief mir den Rücken hinunter. Die erste Sensation des Tages hatten sie verpasst, weil der arme Geoff zu so unmenschlich früher Stunde gefunden worden war. Aber jetzt würden sie nichts mehr versäumen. Und nicht nur sie. Mangels massenmedialer Präsenz ruhte die ganze Last der Ereignisdokumentation auf den Schultern meiner Nachbarn, welche diese Verpflichtung auch denkbar ernst nahmen. Anfangs begriff ich nicht, weshalb einige von ihnen den Arm in die Luft reckten, aber dann erkannte ich, dass sie mit ihren Handys filmten, um den Moment einzufangen, wenn ich aus dem Haus komme– angeführt von Smith und mit einem weiteren Polizeibeamten im Rücken– und zum Auto gebracht werde. Unwillkürlich straffte ich meinen Rücken. Ich trug keine Handschellen. Ich hatte nicht vor, mein Gesicht zu verbergen und mich wie eine Schuldige ins Auto zu ducken. Erhobenen Hauptes wollte ich gehen, sodass niemand sah, dass man mich verhaftet hatte. Es gab keinen Grund, mich zu verstecken. Doch auf dem letzen Stück des Weges schoss mir dann doch noch die Schamesröte ins Gesicht.
Smith hielt mir die hintere Wagentür des Zivilfahrzeugs auf, das vorgefahren war. Wie ein Chauffeur stand er daneben und wartete, bis ich eingestiegen war. Ich vermied es, ihn anzusehen. Die Tür schlug zu, und zum ersten Mal fühlte ich mich wie eine Gefangene. Der Fahrer war noch jung, hatte rotes Haar und ein schmales Gesicht wie ein Fuchs. Das musste DC Freeman sein, dachte ich und sagte kein Wort zu ihm, obwohl er mich unverhohlen musterte. Während ich darauf wartete, dass Smith auf dem Beifahrersitz Platz nahm, sah ich an dem jungen Beamten vorbei hinüber zu unserem Haus. Dort war kein Lebenszeichen zu erkennen, kein äußerlicher Hinweis darauf, wie meine Mutter und ich lebten. Für einen Moment erwog ich, um die Erlaubnis zu bitten, ihr zu sagen, wohin sie mich brachten, aber als ich auf das Haus starrte, das da im Sonnenschein vor sich hin brütete, verließ mich der Mut. Es war anzunehmen, dass sie von all diesen Ereignissen nicht die geringste Ahnung hatte. Andererseits konnte ich ihr das auch nicht direkt zum Vorwurf machen. Offenbar war uns beiden so einiges nicht aufgefallen. Wie war es möglich, dass mir der Missbrauch entgangen war, dem nur wenige Meter von mir entfernt ein schutzloses Kind zum Opfer gefallen war?
Ich spürte den Drang, aus dem Auto zu springen, zu unserer Haustür zu laufen und so lange dagegenzuhämmern, bis Mum aufmachte und ich mich ganz fest an sie klammern konnte. Sie könnte mich vor der Polizei schützen und für mich eintreten, wie eine gute Mutter es tun sollte. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich es tatsächlich versucht hätte, vorausgesetzt sie wäre
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