Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
you go down to the woods today, you’re sure of a big surprise …«
Wie passend.
PC McAvoy erledigte seine Aufgabe ordentlich; in weniger als einer Stunde trafen ganze Heerscharen ein: uniformierte Polizisten, Männer und Frauen in Einweg-Papieranzügen mit Kapuze, Beamte mit blauen Overalls, einige auch in Freizeitkleidung oder Anzug. Die meisten brachten irgendetwas mit: Plastiktüten, Behälter, Sichtschutzwände, Scheinwerfer, eine Bahre mit Leichensack, einen stotternd anspringenden Generator, der einen widerlichen Maschinengeruch in die Luft blies. Immer wieder kam jemand auf mich zu und stellte mir Fragen: Wie hatte ich die Leiche gefunden? Was hatte ich berührt? Hatte ich beim Joggen jemanden gesehen? War mir etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Ich beantwortete das Meiste davon so gut wie ohne nachzudenken und berichtete, wo ich herumgelaufen war, wo ich gestanden und was ich berührt hatte. Aus meinem Zittern war vor lauter Erschöpfung inzwischen ein regelrechtes Schlottern geworden. Anson und McAvoy waren verschwunden und widmeten sich wohl wieder ihren Routineaufgaben. An ihrer Stelle durchkämmte jetzt die Mordkommission das Waldgebiet. Was für eine merkwürdige Arbeit sie hatten, dachte ich unwillkürlich bei mir. Sie gingen ganz ruhig und gelassen zu Werke, so professionell und systematisch, als würden sie im Büro mit Papieren hantieren. Niemand sah gehetzt oder gar betroffen aus; alle waren hochkonzentriert. McAvoy war der Einzige, der angesichts des grausigen Fundes auf der kleinen Lichtung eine menschliche Reaktion gezeigt hatte, wofür ich ihm äußerst dankbar war. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich an der Intensität meiner eigenen Gefühle gezweifelt. Andererseits hatten sie Jenny ja gar nicht gekannt. Ich hingegen hatte sie lebendig erlebt, wie sie in der letzten Reihe meines Klassenzimmers über einen Scherz lachte oder sich voller Ernsthaftigkeit meldete, wenn sie eine Frage hatte. Ich würde fortan immer die Lücke in den Reihen ihrer Mitschüler sehen, das fehlende Gesicht auf dem Klassenfoto bemerken. Für sie war es lediglich eine Akte, ein Stapel Fotos, Beweismaterial in Plastiktüten. Sie sahen in ihr einen Fall– nicht mehr und nicht weniger.
Jemand hatte eine abgewetzte Decke gefunden und sie mir um die Schultern gelegt. Ich hielt die Enden so fest umklammert, dass meine Fingerknöchel ganz weiß wurden. Die Decke roch seltsam muffig, aber das war mir egal. Hauptsache, sie wärmte. Ich beobachtete, wie die Polizisten umhereilten; im grellweißen Licht der inzwischen rings um die Lichtung auf Ständern montierten Scheinwerfer wirkten ihre Gesichter gespenstisch. Es war ein eigenartiges Gefühl, von oben auf die Menschen dort unten hinabzuschauen, die ihre jeweilige Rolle genau kannten und sich nach einem für mich unhörbaren Rhythmus bewegten. Ich war entsetzlich müde und wollte eigentlich nur noch eins: nach Hause.
Eine Beamtin in Zivil löste sich aus einer Personengruppe, die sich unweit der Stelle versammelt hatte, wo Jennys Leichnam noch immer lag. Sie erklomm die Böschung und kam direkt auf mich zu.
» Ich bin Detective Constable Valerie Wade«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen. » Nennen Sie mich einfach Valerie.«
» Ich bin Sarah.« Ich befreite einen Arm aus der schweren Decke und schüttelte ihr die Hand.
Sie lächelte mich aus blauen Augen an, die im kalten Licht der Scheinwerfer leuchteten. Sie hatte ein rundes Gesicht, hellbraunes Haar und wirkte etwas füllig. Ich nahm an, dass sie ein wenig älter war als ich, aber nicht viel.
» Das ist wahrscheinlich alles ziemlich verwirrend für Sie.«
» Alle sehen so geschäftig aus«, erwiderte ich matt.
» Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen erklären, was dort unten geschieht. Die Leute in den weißen Anzügen da, das sind die Mitarbeiter der Spurensicherung. Sie suchen genau wie im Krimi den Tatort nach Hinweisen ab.« Sie sprach in einem leichten Singsang, als würde sie das alles einem Kind erklären. » Und der Mann dort drüben bei…«
Sie unterbrach sich, sodass ich mich zu ihr umdrehte und mich über ihren Gesichtsausdruck wunderte, bis ich begriff, dass sie Jennys Leiche nicht erwähnen wollte. Als ob ich vergessen konnte, dass sie dort lag.
» Der Mann, der dort drüben kniet, das ist der Gerichtsmediziner. Und die beiden hinter ihm sind Kriminalbeamte so wie ich.«
Sie zeigte auf zwei Männer, die ebenfalls keine Uniform trugen– einer über fünfzig, der andere um die dreißig. Der
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