Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
ältere Kommissar hatte graues, fast weißes Haar. Er beugte sich nach vorn, mit runden Schultern und den Händen in den Taschen seiner zerknitterten Anzughose, um genau zu verfolgen, was der Pathologe tat. Er wirkte ausgehöhlt vor Erschöpfung und schaute finster drein. Im geschäftigen Treiben rund um den Fundort war er der einzige Ruhepunkt. Der jüngere Kriminalbeamte war groß, breitschultrig, braunhaarig und eher von der mageren Sorte. Er wirkte dynamisch und energiegeladen.
» Der grauhaarige Herr ist Chief Inspector Vickers«, erklärte Nennen-Sie-mich-Valerie ehrfurchtsvoll. » Und der andere ist Detective Sergeant Blake.« Ihr veränderter Tonfall zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Satzes wirkte kurios. Anstelle von Ehrfurcht sprach aus ihren Worten nun diffuses Missfallen, und mit einem Seitenblick erkannte ich, dass ihre Wangen leicht gerötet waren. Vermutlich das alte Lied: Sie himmelt ihn an, während er nicht einmal ihre Existenz wahrnimmt. Allein die Nennung seines Namens versetzte sie daher in Missstimmung. Arme Valerie.
Der Gerichtsmediziner schaute auf und gestikulierte in Richtung einiger Polizisten in seiner Nähe, die daraufhin die etwas abseits abgestellten Sichtschutzwände herbeiholten und sie sorgfältig platzierten, sodass alles Folgende vor meinem Blick verborgen blieb. Ich wandte mich ab und versuchte, nicht daran zu denken, was dort unten wohl jetzt vor sich gehen mochte. Jenny spürte schon lange nichts mehr, versuchte ich mich zu trösten. Ihre sterblichen Überreste bekamen nichts von alldem mit, was hier mit ihr geschah, mochte es auch noch so demütigend sein. Aber trotzdem war es mir nicht egal– um ihretwillen.
Ich hätte alles darum gegeben, die Zeit um ein paar Stunden zurückdrehen und einfach eine andere Laufstrecke einschlagen zu können. Und dennoch wusste ich nur allzu gut, dass es schlimmer sein konnte, mit der Hoffnung weiterzuleben. Die Tatsache, dass ich Jennys Leichnam gefunden hatte, verschaffte den Eltern zumindest eine Spur Klarheit darüber, was ihrer Tochter zugestoßen war. Wenigstens wussten sie nun, dass sie alle Angst und Schmerzen hinter sich hatte.
Ich räusperte mich. » Valerie, glauben Sie, dass ich mich bald auf den Weg machen kann? Ich bin ja jetzt schon ziemlich lange hier und möchte wirklich gern nach Hause.«
Valerie schaute mich entsetzt an. » Oh nein, wir möchten auf jeden Fall, dass Sie so lange warten, bis der Chief Inspector mit Ihnen gesprochen hat. Wir befragen jemanden, der eine Leiche gefunden hat, immer gern so bald wie möglich. Ganz besonders in diesem Fall, da Sie ja das Opfer kannten.« Sie beugte sich zu mir. » Außerdem würde ich gern etwas mehr über das Mädchen erfahren, weil ich als Verbindungsperson für die Familie fungieren werde. Und es kann ja nicht schaden, wenn man vorab ein bisschen weiß, was auf einen zukommt.«
Für diese Aufgabe war sie bestimmt gut geeignet, dachte ich abwesend. Ihre weichen, rundlichen Schultern waren förmlich dazu angetan, sich daran auszuweinen. Dann merkte ich, dass sie mich gespannt anschaute und auf eine Antwort wartete. Doch plötzlich hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, mit ihr zu reden. Dazu war ich viel zu durchgefroren, falsch gekleidet, schmutzig und durcheinander. Geschäftig befreite ich meinen Pferdeschwanz aus dem Haargummi und schüttelte mein Haar aus. » Ist es ein Problem, wenn ich darüber im Moment nicht sprechen möchte?«
» Nein, auf keinen Fall«, entgegnete sie freundlich nach kurzem Zögern. Vermutlich hatte sie das in ihrer Ausbildung gelernt: Lassen Sie einen Zeugen niemals Ihre Enttäuschung spüren. Stellen Sie ein Gefühl von Nähe her. Sie legte mir die Hand auf den Arm. » Sie wollen so schnell wie möglich nach Hause, nicht wahr? Es kann wirklich nicht mehr lange dauern.« Bei einem Blick über meine Schulter hellte sich ihr Blick auf. » Da sind sie ja schon.«
DCI Vickers kam direkt auf uns zu. Er war noch ganz außer Atem vom Erklimmen der Böschung. » Tut mir leid, dass Sie hier herumsitzen mussten, Miss…«
» Finch«, ergänzte Valerie hilfsbereit.
Die bei näherem Hinsehen erkennbaren Tränensäcke unter den Augen des Oberinspektors und die senkrechten Furchen in seinen Wangen deuteten auf notorischen Schlafmangel hin. Seine Augen waren rot gerändert und von feinen Äderchen durchzogen; ihre Iris leuchtete jedoch in hellem Blau, und ich hatte den Eindruck, dass ihnen kein noch so winziges Detail entging. Seine Ausstrahlung war
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