Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
konnte.«
» Ist sie gefoltert worden, Miss Finch? Alle sagen, dass sie überall verbrannt war und Schnitte hatte.«
» Wurde sie vergewaltigt, Miss Finch?«
» Wie ist sie denn gestorben?«
» Wer hat sie umgebracht?«
Ich versuchte sie zu beruhigen, so gut ich es vermochte. » Lasst euch nicht von eurer Arbeit ablenken, ihr habt genug zu tun. Die Polizei wird den Täter bald finden.«
Im Grunde taten mir die Mädchen leid. Sie gaben sich unerschrocken, aber eigentlich hatten sie Angst. Schonungslos war die Erkenntnis der Sterblichkeit in ihre Welt eingebrochen. Welches Mädchen in diesem Alter geht denn nicht davon aus, ewig zu leben? Dass jemand so grausam aus ihrer Mitte gerissen wurde, war ein großer Schock für sie, über den sie natürlich reden mussten. Völlig verständlich. Doch für mich war dieser Tag enorm aufreibend.
Ganz wie Elaine prophezeit hatte, saß ich um halb sechs immer noch in der Schule. Das letzte der von mir beaufsichtigten Mädchen war gerade von seinem Vater abgeholt worden, einem stiernackigen Typen mit teurem Anzug, der im Jaguar vorgefahren kam. Er nutzte die Gelegenheit, mir mitzuteilen, welche Zeitverschwendung es für ihn bedeutete, seine Tochter abzuholen, und dass die Schule wie üblich völlig überzogen reagiert hatte. Ich fragte mich, was genau für ihn das Übliche an der Ermordung einer Mitschülerin seiner Tochter war, schaffte es jedoch, den Mund zu halten, als seine Tochter schweigend und mit verzweifeltem Blick zu ihm ins Auto stieg. Ich konnte förmlich hören, wie sie mich anflehte, nicht mit ihm zu streiten und seine Stimmung nicht weiter anzuheizen. Also setzte ich ein souveränes Lächeln auf.
» Wir tun doch nur unser Bestes, damit die Mädchen in Sicherheit sind. Das ist schließlich das Wichtigste, nicht wahr?«
» Scheint mir ja ein bisschen spät zu kommen, ihr ganzes Sicherheitsgedöns. Schon mal was vom Kind und dem Brunnen gehört? Und dann auch noch für den Rest der Woche die Schule einfach dichtzumachen und sich einen netten Urlaub zu organisieren. Denken Sie eigentlich auch mal an die Eltern, die jetzt für vier Tage einen Babysitter auftreiben müssen?« Sein ohnehin schon rot angelaufenes Gesicht wurde noch röter. » Sie können Ihrer werten Frau Direktor bestellen, dass ich vom nächsten Schulgeld eine Woche abziehen werde. Dann kann sie mal nachdenken, worauf es wirklich ankommt.«
» Ich werde es ihr ausrichten«, sagte ich und trat geistesgegenwärtig einen Schritt zurück, als er den Motor aufjaulen ließ und davonraste, dass die Reifen den Kies aufwirbelten. Es wäre verlorene Liebesmüh gewesen, ihm zu sagen, dass die Shepherds alles geben würden, um an seiner Stelle zu sein, aber ich hätte es trotzdem fast getan.
Als ich zurück ins Schulgebäude gehen wollte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen und sah mich suchend um. Oh nein, nicht der, bitte. Geoff Turnbull kam quer über den Parkplatz gerannt, direkt auf mich zu. Weglaufen wäre würdelos gewesen. Außerdem war er ziemlich durchtrainiert. Also musste ich das jetzt auch noch durchstehen.
» Hab dich den ganzen Tag nicht gesehen.« Er kam viel zu dicht vor mir zum Stehen und strich mir mit der Hand fürsorglich über den Arm. » Ist das nicht entsetzlich? Wie geht’s dir denn?«
Zu meinem blanken Entsetzen stiegen mir bei dieser Frage die Tränen in die Augen. Es geschah einfach so, Erschöpfung und Stress bahnten sich wohl ihren Weg. » Alles okay.«
» He«, sagte er und rüttelte mich sanft am Arm. » Mir musst du nichts vormachen, das weißt du doch. Lass es ruhig raus.«
Ich wollte aber nichts rauslassen, und ganz bestimmt nicht vor ihm. Geoff war der Schwarm des gesamten Lehrerzimmers und stieg mir nach, seit ich an dieser Schule angefangen hatte. Der einzige Grund, weshalb er noch Interesse an mir hatte, bestand darin, dass ich keines an ihm hatte. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich ihn möglichst geschickt loswerden konnte, fühlte ich mich durch eine wohl beruhigend gemeinte Umarmung an seinen Körper gezogen. Er schaffte es, sich so zu positionieren, dass er sich vollständig an mich anschmiegen konnte. Gänsehaut überfiel mich. Hilflos tätschelte ich seinen Rücken in der Hoffnung, er werde mich bald wieder loslassen. Unterdessen wägte ich ab, ob die Knie-in-Leistengegend-Taktik besser war oder ob ich lieber eine seiner gierigen Hände packen und seine Finger nach hinten umbiegen sollte. Da ich für beides viel zu höflich war, starrte ich nur
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