Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
ihn so mitnahm, trotzdem war es alles andere als fair.
Ich atmete tief durch und versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen. Ein bisschen verirrter Hass wirft mich doch nicht aus der Bahn, sagte ich mir, aber es schmerzte dennoch.
» Alles in Ordnung?«
Ich schaute auf und sah mich Andrew Blake gegenüber, der sich mit besorgter Miene über mich beugte.
» Kein Problem. Ich verstehe nur nicht, warum man die armen Leute nicht in Ruhe lässt. War es wirklich nötig, sie so vor die Presse zu zerren?«
» In diesem Stadium müssen wir das Medieninteresse ausnutzen– noch bevor sie anfangen, auf uns herumzuhacken, weil wir den Täter nicht finden. Die Eltern sorgen für Quote im Fernsehen. Ich denke, wir sind heute in allen Nachrichtensendungen die Spitzenmeldung.«
» Das nenne ich Pragmatismus«, bemerkte ich.
» Na und? Im Moment können wir nicht viel Nützliches tun. Mein Chef sitzt da drinnen fest und versucht mit diesen Geiern fertig zu werden. Jedes Mal, wenn ich entkommen und mich meiner eigentlichen Arbeit widmen will, rücken mir diese Typen auf die Pelle. Ganz davon zu schweigen, dass sie ihre eigenen Ermittlungen laufen haben und wahrscheinlich mehr Befragungen durchziehen als wir. Von meinen Kollegen, die geduldig an den Wohnungstüren klingeln, habe ich jedenfalls gehört, dass die Klatschpresse immer schon vor ihnen da war. Die stecken ihre Nase überall rein, stehen ständig im Weg und sind dann die ersten, die uns vorwerfen, wir hätten es vermasselt, obwohl sie es sind, die den Karren in den Dreck fahren.« Er war zum Schluss immer lauter geworden, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und lief nervös auf und ab. Schließlich wandte er sich wieder mir zu. » Tut mir leid. Warum schreie ich Sie eigentlich an? Sie können ja nichts dafür.«
» Bin ich gewöhnt«, sagte ich leichthin. » Machen Sie sich mal keine Sorgen.« Er sah mich fragend an, aber ich schüttelte den Kopf. Ins Detail wollte ich dann doch nicht gehen.
» Es ist einfach nur frustrierend. Die ersten Tage der Ermittlungen sind die wichtigsten, und womit stümpern wir herum? Wir machen auf Schauspieler für die Medien, statt vernünftig zu ermitteln. Wenn wir die Medien mal für etwas brauchen, wobei sie uns wirklich helfen könnten, dann lassen sie uns im Regen stehen.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr fort. » Aber trotzdem müssen wir das Theater mitmachen, nur für den Fall, dass es doch etwas bringt. Und wenn wir ihnen unsere Informationen und den Zugang zur Familie verweigern würden, wären sie noch viel lästiger.«
» Glauben Sie, dass dieser Appell von den Shepherds etwas nützt?«
» Meiner Erfahrung nach bringen solche Sachen nie etwas. Welcher Mörder wird sich denn freiwillig stellen, bloß weil er gesehen hat, dass die Eltern kopfstehen? Wenn es jemand fertigbringt, ein Kind zu ermorden, kann mir doch keiner erzählen, dass ein paar Tränen vor der Kamera ihn plötzlich an sein Gewissen erinnern.«
» Aber vielleicht die Familie des Mörders– seine Frau, oder seine Mutter…«
Blake schüttelte den Kopf. » Ich bitte Sie, überlegen Sie doch mal, was da alles auf dem Spiel steht. Die Mehrheit der Leute schert sich den Teufel, sobald die Konsequenz so aussieht, dass sie ein Familienmitglied an die Bullen ausliefern müssten.«
» Allen Ernstes?« Das wollte mir nicht in den Kopf. » Lieber leben sie mit einem Mörder unter einem Dach?«
» Denken Sie doch mal nach«, sagte Blake und zählte an seinen Fingern auf: » Völliges Durcheinander– das gesamte Familienleben gerät aus den Fugen. Einkommensverlust– kann ja sein, dass es der Hauptverdiener ist, der da geschnappt wird, und dann muss der Rest der Familie von Sozialhilfe leben. Steine fliegen durchs Fenster, an der Hauswand tauchen Schmierereien auf, die Leute fangen an zu tuscheln. Der Hass der Nachbarn ist garantiert– das war’s dann mit dem freundlichen Schwätzchen am Gartenzaun. Und zu dem Zeitpunkt hat man noch nicht mal darüber nachgedacht, dass die potenziellen Zeugen, die den Mörder entlarven sollen, höchstwahrscheinlich zu seinem engen Umfeld gehören. Würden Sie jemanden, den Sie gern haben, der Polizei übergeben?«
» Aber Jenny wurde ermordet! Sie war ein zwölfjähriges Mädchen, das niemandem etwas zuleide getan hat. Wie kann man nur zu jemandem halten, der für diesen Tod verantwortlich ist?«
Er schüttelte den Kopf. » Loyalität ist ein starkes Gefühl. Sich ihm zu widersetzen und das Richtige zu tun, ist
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