Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
komisch vor? Lag sie nicht direkt neben einem Teich?«
Ich zuckte die Schultern. » Muss ich vergessen haben.«
Carol schüttelte ungehalten den Kopf. » Jetzt kommen Sie mir nicht so. Natürlich haben Sie gemerkt, dass da was nicht stimmte. Wollen Sie mich veralbern, oder was?«
» Wie kommen Sie denn darauf?« Ich versuchte, einen Hauch empörter Unschuld mitschwingen zu lassen, was sie mir aber nicht abkaufte.
» Sarah, Sie wissen ganz genau, dass die Leiche nicht neben einem Gewässer lag. Weil sie nämlich gar nicht dort gestorben ist. Inzwischen hat man herausgefunden, dass sie in chemisch behandeltem Wasser ertrunken ist.«
» Wie meinen Sie das?« Jetzt war ich ehrlich verblüfft.
» Leitungswasser. Sie wurde in einem Haus ertränkt. In der Badewanne oder im Waschbecken oder so.«
Carol redete ganz sachlich. Sie schaufelte sich einen Löffel voll Zucker in ihren Tee und rührte so heftig um, dass das Metall gegen die Becherwand klirrte.
Unter dem Tisch presste ich meine Hände zusammen. Carol sollte nicht sehen, wie sie zitterten. Jemand hatte also kaltblütig Jennys Leben ausgelöscht, entweder in einem Badezimmer oder in einer Küche. Jemand hatte einen so sicheren Ort wie ein Zuhause in ein Schlachthaus verwandelt.
» Wie nehmen es die Shepherds auf?«, fragte ich, weil mir plötzlich auffiel, wie still es zwischen uns geworden war.
» Die Mutter ist selbstverständlich völlig am Boden«, antwortete sie zwischen zwei Bissen Schinkenbrötchen. » Von ihr habe ich keine brauchbaren Äußerungen. Sie ist ständig entweder im Tablettenrausch oder in Tränen aufgelöst. Ich bezweifle auch, dass die Polizei inzwischen etwas Hilfreiches von ihr gehört hat. Der Vater– nun ja, das ist eine andere Geschichte. Er kocht vor Wut. Ich habe noch nie einen Trauernden so angespannt erlebt.«
Als ich ihn das erste Mal sah, sprach vor allem Angst aus seinen Augen. Die Wut musste später hinzugekommen sein. Ich nahm einen kleinen Bissen von meinem Brötchen. » Menschen reagieren eben verschieden.«
» Sie kennen sich damit ja aus«, konterte Carol.
Argwöhnisch schaute ich auf. Die Journalistin starrte mich an, eiskalt wie immer.
» Ich habe ein bisschen recherchiert, wissen Sie– ungefähr so wie Sie vorhin in der Bibliothek, nehme ich an. Und was glauben Sie wohl, was ich da gefunden habe? Noch ein anderes Kind, das verschwunden ist, allerdings schon vor längerer Zeit. Fünfzehn Jahre ist das jetzt her, nicht wahr?«
» Sechzehn«, korrigierte ich. Ausflüchte waren offensichtlich zwecklos.
Sie lächelte schwach. » Richtig. Sie waren ja noch ein kleines Mädchen damals. Ehrlich gesagt war ich überrascht, dass ich Sie überhaupt erkannt habe. Aber mir war auf Anhieb alles klar. Sarah, Sie glauben ja gar nicht, wie überrascht ich war, Sie auf einem Bild zusammen mit Ihren armen Eltern in der Zeitung zu sehen. Nicht mal die Namensänderung hat mich irritiert– war ein Kinderspiel, das rauszufinden. Der Mädchenname Ihrer Mutter, hab ich Recht?«
Ich sagte nichts. Es wäre sowieso überflüssig gewesen.
» Ich habe mir also überlegt«, hob Carol an und biss dabei wieder herzhaft in ihr belegtes Brötchen, sodass ein Klumpen aus Weißbrot, Schinken und Ketchup ihre Worte dämpfte, » einen kleinen Beitrag darüber zu schreiben, wie es in solchen Fällen den Familien ergeht, also was mit denen geschieht, die zurückbleiben, verstehen Sie?«
Unwillkürlich entfuhr mir ein missbilligender Laut, der Carol nicht entging. » Oh nein, ich bitte Sie ganz bestimmt nicht um Ihre Mitarbeit. Ich informiere Sie nur. Sie denken wohl, mir ist nicht aufgefallen, dass Sie einen heißen Draht zu den Ermittlern haben? Glauben Sie allen Ernstes, dass Sie mir dafür nichts schuldig sind? Ich bin sicher, das wird eine wunderbare Geschichte mitten aus dem Leben. Zwei Tragödien an einem Ort, und Sie sind das Bindeglied. Das ist doch schon beinahe , wie soll ich sagen , geradezu unheimlich. Und ich bin die Einzige, die das Puzzle richtig zusammensetzt, was das Ganze zu einem absolut marktfähigen Unterfangen macht.«
» Hören Sie«, erwiderte ich kraftlos, » ich will mich dazu wirklich nicht äußern.«
» Nein, jetzt hören Sie mir mal zu. Es gibt genau zwei Möglichkeiten, wie wir das regeln können. Ich kann mit Ihrer freundlichen Unterstützung einen netten kleinen Artikel verfassen, bei dem die Leser gerührt in ihre Morgenzeitung schluchzen, oder aber ich lasse mich minutiös über die Gerüchte aus, die sich
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