Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
glaube, du brauchst jemanden, der ein bisschen auf dich aufpasst. Ich bin froh, dass ihr so eine stabile Kette vor der Tür hängen habt, hier laufen nämlich eine Menge seltsame Typen herum. Du lebst gefährlich, so ganz allein mit deiner Mutter. Ist dir das eigentlich klar, Sarah?«
Stirnrunzelnd versuchte ich herauszufinden, was es mit Geoffs Stimmungswechsel auf sich hatte, und fragte mich, ob er mich vielleicht einschüchtern wollte. Auch wenn ich es nicht zeigte, fühlte ich mich ziemlich beklommen. Das Argument stachelte ihn offenbar eher an, als dass es ihn vertrieb. Es gefiel mir nicht, und mein Vertrauen zu ihm war auch nicht gerade gewachsen. Erneut beschlich mich das Gefühl, dass er der Angreifer in der Einfahrt zwei Nächte zuvor gewesen sein könnte. Ich lachte gequält. » Aber ich fühle mich nicht gefährdet, sondern einfach nur müde. Ich gehe jetzt schlafen, Geoff. Bitte bleib nicht mehr allzu lange da draußen.«
» Nur noch ein Weilchen. Wir sehen uns dann vielleicht morgen.«
» Gut«, erwiderte ich, innerlich fluchend.
Er entfernte sich vom Eingang, winkte mir– nun wieder ganz der nette Kerl– gut gelaunt zu und ging den Weg hinunter. Ich machte die Tür zu und verschloss und verriegelte sie nach allen Regeln der Kunst. Als ich noch einmal nach draußen schaute, saß er auf der Mauer am Ende des Gartens und zündete sich eine Zigarette an, als sei er hier zu Hause.
Ein Geräusch hinter mir ließ mich zusammenzucken. Als ich mich umdrehte, stand Mum in der Wohnzimmertür.
» Wer war das?«
» Niemand.«
» Dafür hast du dich aber ziemlich lange mit ihm unterhalten.« Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrem Glas. Ihre Augen funkelten boshaft. » Warum hast du ihn nicht reingelassen? Schämst du dich meinetwegen? Hattest du Angst, dass dein Freund einen schlechten Eindruck von dir bekommt?«
» Er ist gar kein Freund, Mum«, erklärte ich und fühlte mich unendlich müde. » Ich wollte ihn eben nicht hier drin haben. Das hat nichts mit dir zu tun.« Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der ziemlich beängstigend war. » Sprich bitte nicht mit ihm, wenn du ihn siehst. Mach auf keinen Fall die Tür auf, ja?«
» In meinem Haus mache ich die Tür auf, wie es mir passt«, gab Mum empört zurück. » Ich lasse mir von dir doch nicht vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe.«
» Nur zu.« Ich hob entnervt die Hände. » Lass ihn ruhig herein, wenn dir danach ist. Ist doch sowieso egal.«
Da es darüber vorerst nichts mehr zu streiten gab, verlor sie das Interesse und zog sich nach oben zurück. Als ich ihr nachsah, wie sie langsam und schwankend die Treppe hinaufstieg, war mir zum Weinen zumute. Ich wusste nicht, was ich wegen Geoff tun sollte und hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Ich wusste nicht, ob ich überzogen reagiert hatte oder nicht. Außer Mutmaßungen hatte ich nichts in der Hand. Das einzige Indiz bestand darin, dass er mich mochte. Die Tatsache, dass er mir Angst einjagte, war für die Polizei nicht relevant.
Aber immerhin einen Polizisten gab es, dem die Sache vielleicht nicht ganz egal war. Vielleicht konnte ich Blake bitten, ihn abzuwimmeln, falls ich den Mut dazu aufbrachte. Blake hatte Geoff unsympathisch gefunden, als sich die beiden vor der Kirche begegnet waren. Die beiden Männer waren umeinander herumgeschlichen wie steifbeinige Hunde, die vor einem Kampf ihre Chancen ausloten. Ich war jedenfalls fest davon überzeugt, dass Blake immer gewann.
Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich aufs Sofa und unterdrückte ein Gähnen. Ich würde mich erst einmal ausschlafen, ehe ich einen Entschluss fasste. Schließlich stellte Geoff da draußen keine Gefahr dar, und wir waren hier drinnen in Sicherheit. Und morgen früh würde ich wahrscheinlich viel klarer sehen.
1992
Seit drei Monaten vermisst
» Du gehst an einem herrlichen Strand spazieren, und die Sonne steht hoch oben am Himmel«, leiert die Stimme hinter mir in schleppendem Singsang.
Spaziiiiieren. Sooonnnne. Ich langweile mich. Aber ich muss ganz still und leise sein, darf die Augen nicht aufmachen und muss der Frau zuhören, die immer noch von diesem Strand redet.
» Und der Sand ist ganz feiner, weißer Sand, herrlich warm und angenehm unter deinen Füßen.«
Ich überlege, wann ich das letzte Mal am Strand war. Davon würde ich der Frau, die Olivia heißt, gern erzählen. Wir waren in Cornwall. Charlie wollte, dass ich mich dicht ans Wasser stelle, und fing an, um mich
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