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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Es ist bestimmt kein Unsinn, alles zu tun, was wir tun können, um ihn zu finden.« Mit dem Daumen weist sie nach hinten in meine Richtung. » Sie ist unser einziges Bindeglied zu dem, was mit Charlie passiert ist. Und sie kann– oder will– uns nicht sagen, was passiert ist. Das soll doch auch ihr helfen.«
    Tut es aber nicht. Das weiß ich ganz genau.
    » Es ist jetzt Monate her«, beschwichtigt sie Dad. » Wenn sie etwas Wichtiges gesehen oder gehört hätte, wüssten wir es inzwischen. Du musst dich von dieser Vorstellung lösen, Laura. Du musst uns weiterleben lassen.«
    » Und wie zum Teufel sollen wir das schaffen?« Mums Stimme versagt, und sie bebt am ganzen Körper. Sie dreht sich zu mir um und schaut mich an. » Sarah, ich will von dir nicht die kleinste Beschwerde mehr hören. Du wirst da wieder hingehen und mit Olivia sprechen. Und du wirst ihr sagen, was passiert ist– du sagst ihr gefälligst, was du gesehen hast– und wenn nicht… wenn nicht…«
    Das Fenster neben mir ist angelaufen. Mit dem Ärmel wische ich ein Stück der Scheibe frei, damit ich sehen kann, wie die Welt da draußen vorbeigleitet. Ich beobachte die Autos und die Leute, und ich versuche, nicht auf das Weinen meiner Mutter zu hören. Es ist das traurigste Geräusch auf der ganzen Welt.

10
    Der Morgen kam wesentlich früher als erwartet. Licht pulste durch die Vorhänge, und ich brauchte eine Weile, bis mir auffiel, dass das Licht viel heller war als das der kühlen, blauen Morgendämmerung– und dass Morgenlicht üblicherweise auch nicht im Zweisekundentakt blinkt.
    Ich richtete mich halb auf, stützte mich auf einen Ellbogen, und wie bei einem Kaleidoskop, das man schüttelt, löste sich die diffuse Geräuschkulisse plötzlich in erkennbare Bestandteile auf. Auf den Bäumen vor meinem Fenster stießen die Vögel schrille, abgehackte Warnrufe aus und tschilpten verdrießlich angesichts der Störung. Wie zur Antwort krächzten und piepten Funkgeräte. Etliche Stimmen murmelten eindringlich. Mehrere Fahrzeugmotoren liefen. Und während ich lauschte, kam noch ein weiteres Auto hochtourig in die Sackgasse hineingefahren. Dann quietschten Bremsen, und das Motorengeräusch hörte auf. Da hat es aber jemand eilig, dachte ich, setzte mich vollständig auf und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Dann hörte ich Schritte. Sie waren gleichmäßig, gezielt und zu nahe am Haus, um beruhigend zu wirken. Losgetretene Kieselsteine schlitterten die Straße entlang. Ich fröstelte und hatte plötzlich keine Eile mehr herauszufinden, was sich vor unserem Haus abspielte. Dafür spürte ich den beinahe unwiderstehlichen Drang, mich einfach umzudrehen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen.
    Doch ich brachte es nicht fertig. Einen Augenblick später sprang ich aus dem Bett und war mit zwei Schritten am Fenster. Ich schob den Vorhang ein wenig zur Seite und spähte hinaus auf die Straße. Es war noch Nacht oder ganz früh am Morgen. Auf der anderen Straßenseite standen zwei Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, dessen Takt mich aus dem Schlaf geholt hatte. Direkt vor dem Haus parkte ein Krankenwagen. Die Hecktüren standen offen, und durch die halb lichtdurchlässigen Fenster an der Seite konnte ich Bewegung erkennen. Daneben stand eine kleine Gruppe von Polizisten. Der Schreck fuhr mir in die Glieder, als ich in einem von ihnen Blake erkannte. Das Auto, das ich gehört hatte, als es in die Sackgasse hineingeschossen kam, war seins gewesen. Jetzt stand es ein paar Meter entfernt ziemlich schief am Straßenrand. Vor lauter Eile hatte er beim Aussteigen die Fahrertür offen gelassen. Auf dem Beifahrersitz erkannte ich Vickers. Zum Schutz vor dem grellen Licht hielt er sich die Hand über die Augen. Die Furchen in seinem Gesicht wirkten noch dunkler und tiefer, aber ich war mir nicht sicher, ob das dem Licht oder der frühen Morgenstunde geschuldet war oder ob ihn Sorgen quälten. Vielleicht kam ja alles zusammen.
    Ich ließ den Vorhang los und lehnte mich gegen die Wand. Was ich gerade gesehen hatte, konnte ich mir nicht erklären. Ich konnte es nicht einmal richtig glauben. Hätte ich den Vorhang ein zweites Mal aufgezogen und die Straße völlig verlassen vorgefunden, wäre ich wahrscheinlich nicht einmal überrascht gewesen. Es hatte etwas Surreales an sich, all diese Leute direkt vor meiner Haustür zu sehen. Und das beinahe buchstäblich, wie ich feststellte, als ich wieder nach draußen sah– diesmal direkt auf den Hinterkopf eines

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