Die Verraeterin
einmal ein Mädchen namens Kalamazoo«, begann ihre Mutter. Morgan musste kichern, denn ihr gefiel der Klang des Namens. Der Blick ihrer Mutter wanderte zu ihr herab, und einen Moment lang lächelte sie, ehe sie mit ihrer Geschichte fortfuhr. »Kalamazoo«, sagte sie, »war ein eigenwilliges Mädchen, das sehr klug, stark und unabhängig war. Sie war ihrer Zeit weit voraus. Sie war auch hübsch – manche sagten sogar, dass sie den Segen der Engel an dem Tag bekommen hätte, an dem sie geboren wurde. So hübsch war sie. Und neugierig und freundlich.«
Die Stimme ihrer Mutter nahm einen düstereren Ton an. Als ob der Himmel wüsste, was nun kommen würde, versteckte sich die Sonne hinter einer Wolke. »Aber Kalamazoo hatte einen … furchtbaren … Fehler.«
Sie wurden langsamer und blieben neben einem riesigen, verfallenen Baumstamm stehen. Der Stamm war wohl vor langer Zeit einem Sturm zum Opfer gefallen und jetzt von Flechten und Efeu überwachsen. Ihre Mutter hob sie hoch und setzte sie auf den Stumpf, sodass sie sich beinahe auf Augenhöhe befanden. Sie hielt Morgan mit beiden Händen an der Taille fest, bis sich diese mit ihren kleinen, nackten Füßen an der rauen Rinde des Baums abstützen konnte. Auch ihre Mutter war barfuß, keiner der Ikati trug jemals Schuhe, wenn sie in den Wald gingen.
»Sie begehrte «, erklärte ihre Mutter mit großer Ernsthaftigkeit, wobei sie Morgan in die Augen sah. »Sie hatte alles, aber sie wollte andere Dinge. Sie wollte alles, was sie nicht hatte. Ihre Haare waren schwarz, aber sie wollte, dass sie blond wären. Der Himmel war klar, und sie wollte, dass es regnete. Sie wohnte im Wald, und sie wollte in der Stadt leben. Das wollte sie besonders. Sie wollte ein Mädchen sein, das fremde Sprachen sprach und mit einem Fremden in einer verrauchten Bar argentinischen Tango tanzte. Sie wollte ein Leben führen, in dem sie so selbstherrliche, schöne Sätze sagen konnte wie: ›Oh, vielen Dank für die nette Einladung. Aber ich fliege dieses Wochenende nach Cannes, um dort zum Filmfestival zu gehen.‹ Kalamazoo träumte von all den Dingen, die sie nicht hatte. Die ganze Zeit über sehnte sie sich so sehr nach all diesen Dingen, dass ihre Seele aus ihrem Körper wie ein Hemd heraushing, das man nicht in die Hose gesteckt hatte.«
»Und deshalb«, fuhr ihre Mutter unheilvoll fort, »waren die Kobolde auch in der Lage, sie zu fangen.«
Morgans Augen weiteten sich. »Kobolde?«, flüsterte sie.
Ihre Mutter nickte. »Weißt du, Kobolde sind nicht wie wir. Sie essen nicht solche Sachen wie wir. Fleisch, Milch und Süßigkeiten interessieren sie nicht. Was sie essen …«
Morgans kleines Herz pochte wild in ihrer Brust.
Ihre Mutter beugte sich zu ihr vor. »… sind Seelen.«
Obwohl es warm war, lief Morgan ein kalter Schauder über den Rücken. Sie wünschte sich, dass sie ihre Seele noch tiefer in sich verbergen konnte, damit die Kobolde sie nicht bekamen.
»Aber die Kobolde können unsere Seelen nicht einfach nehmen. Oh nein, so funktioniert das überhaupt nicht! Sie müssen uns dazu bringen, ihnen unsere Seelen freiwillig zu überlassen. Und weißt du auch, wie sie das machen?«
Morgan schob den Daumen in ihren Mund und begann, wild daran zu saugen.
Mit einer hohl klingenden, schweren Stimme sagte ihre Mutter: »Mithilfe der Hoffnung. Sie erwischen uns, indem sie uns Hoffnung machen. Hoffnung ist süßer als Honig und noch betörender als Wein. Hoffnung ist das Lockmittel, das sie benutzen. Sie flüstern uns von all den Dingen ins Ohr, die wir so verzweifelt haben wollen, und sie behaupten, dass wir sie eines Tages auch haben können. Also laufen wir durch die Welt, verzehren uns nach diesen Dingen und träumen von ihnen, während unsere Seelen immer weiter aus uns herauswandern. Eines Tages sind wir so sehr damit beschäftigt, dass wir gar nicht merken, wie unsere Seelen wie kleine Schnecken aus ihren Häusern wandern. Und wenn wir es merken, dann ist es bereits zu spät. Dann sind wir leer.
Und das ist auch der schönen Kalamzoo passiert. Zentimeter um Zentimeter, Tag um Tag, Hoffnung um Hoffnung entglitt ihr ihre Seele, die Kobolde verschlangen sie bis auf den letzten Rest. Ohne ihre Seele wurde das Mädchen bald schwächer und starb. Als man sie beerdigte, wuchs nichts um ihr Grab, nicht einmal Unkraut. Denn jeder, der ohne eine Seele stirbt, ist für immer verflucht.«
Morgan stellte sich die Kobolde, das Grab und die nackte Erde vor, und sie schrie vor Entsetzen
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