Die Verraeterin
auf.
Ihre Mutter hob sie hoch. Morgan schmiegte sich zitternd an ihre Brust und verbarg ihr Gesicht in den weichen Haaren ihrer Mutter. Sie machten sich auf den langen Weg zurück nach Sommerley.
»Die Hoffnung ist eine Droge«, murmelte ihre Mutter leise in ihr Ohr. »Hoffnung ist eine Tragödie. Sie wird dich mit ihrem bittersüßen Duft verfolgen, deine Sinne verwirren und dich letztlich in den Wahnsinn treiben. Wesen wie wir können uns den Wahnsinn der Hoffnung nicht leisten, denn alles, was wir sind und jemals sein werden, befindet sich in einem Umkreis von achtzig Kilometern. Für uns wird es niemals mehr geben. Pass also sehr gut auf deine Seele auf, meine Süße. Pass auf, dass du den Kobolden nicht das gibst, wonach sie dürsten. Pass auf, dass du keine Hoffnung in dir aufbaust, und habe keine Angst davor, das zu tun, was Kalamazoo nicht tat: die Hoffnung zerstören.«
Morgan war damals noch ein Kleinkind gewesen. Doch sie erinnerte sich noch so lebhaft an die Geschichte von Kalamazoo, als ob es gestern gewesen wäre. Jetzt saß sie im Schneidersitz auf dem taufeuchten Rasen hinter dem Haus, gequält von Fieber und einem gebrochenen Herzen, und beobachtete die aufgehende Sonne. Inzwischen wusste sie, warum ihre Mutter ihr diese Geschichte damals erzählt hatte.
Denn wie sie selbst begehrte auch Morgan. Vielleicht war es etwas Genetisches, was in ihrer DNS zu finden war. Vielleicht war es aber einfach auch nur Pech. Jedenfalls quälte Morgan dieses schreckliche Gefühl des Wollens ihr ganzes Leben lang, und obwohl ihre Mutter sie zu warnen versucht hatte, dass ihre Seele in Gefahr war, hatte sie nicht auf sie gehört.
Das Begehren hatte für sie die schlimmsten Folgen gehabt. Es hatte sie zum größten Fehler ihres Lebens getrieben, zu einem Fehler, für den sie bitter bezahlen musste. Und jetzt hatte die böse Schwester Hoffnung sich wie das Ei eines Drachens in ihr vergraben, und sie wusste, dass sie von innen heraus verschlungen werden würde. Sie wusste, dass schon bald die Kobolde ihre Seele bekämen.
Xander war die Wärme, in der sich dieses schreckliche Ei der Hoffnung eingenistet hatte. Mit seinen Händen, seinen Lippen, der Poesie seiner Worte und dem dunklen Brennen seiner Augen hatte er so lange Hoffnung in sie gepflanzt, bis ihr der Atem stockte.
Was wäre, wenn?
Diese drei Wörter waren für sich genommen ganz harmlos. Doch wenn man sie zusammensetzte, wuchsen ihnen auf einmal Reißzähne, und sie saugten alles Leben, alles Blut aus einem heraus.
Morgan konnte sich keinen weiteren schweren Fehler leisten. Sie wusste jetzt, was sie tun musste.
In diesem Moment hörte sie das Echo von Schritten im Haus, die in den leeren Räumen widerhallten. Sie hörte, wie panisch ihr Name gerufen wurde – zuerst schwach und dann immer lauter. Die Hintertür wurde aufgerissen und knallte mit einem lauten Krachen gegen die Mauer, und eine Schar von Spatzen, die auf den Ästen einer Ulme saßen, flog in den morgendlichen Himmel auf. Sie hörte schweres Atmen, dem eine lange Pause folgte, und schließlich vorsichtige Schritte, die leicht wie die Flügel von Schmetterlingen über das Gras strichen. Er stand hinter ihr. Einen Moment lang sagte er kein Wort, und sie spürte das Gewicht seines Blicks wie einen warmen Druck auf ihrem Rücken.
»Was tust du hier draußen?«, fragte Xander leise, die Stimme voller Besorgnis. »Es ist kalt … Komm wieder rein, komm wieder ins Bett.«
Komm wieder ins Bett. Allein dieser Satz reichte, um ihren Entschluss ins Wanken zu bringen. Sie biss die Zähne zusammen, um das Verlangen zu unterdrücken und nicht länger von seiner Nähe gequält zu werden. Das Chaos ihrer Hormone im Fieber waren schlimm genug, aber ihr Herz, oh, ihr Herz …
»Es ist herrlich, nicht wahr?«, sagte sie und nahm den Blick keinen Moment lang von dem orangefarbenen Sonnenaufgang. Der Himmel verwandelte sich von einem violetten Blau in ein bernsteinfarbenes Gelb und schließlich in ein strahlendes Pink, durchsichtig wie eine Qualle. »Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich mich immer gefragt, ob der Sonnenaufgang überall gleich aussieht. Wie zum Beispiel an einem Strand in Fidschi oder einem anderen Ort, den ich niemals sehen würde … Sieht er genauso aus wie dieser hier?« Sie spürte, wie sich Xanders Muskeln anspannten, und hörte, dass ihm eine Sekunde lang der Atem stockte. Dann kam er näher und kniete sich hinter sie auf das feuchte Gras. Sein Duft nach Gewürzen, Haut und
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