Die Verraeterin
laufen konnte.
Sie wusste, dass sie selbst mit dem Ring um ihren Hals diese blitzschnelle Geschwindigkeit zu erreichen vermochte. Mr. Regeln-und-Vorschriften würde sich garantiert nicht verwandeln, um ihr zu folgen, da es das Gesetz der Ikati ausdrücklich verbot, in der Nähe von Menschen seine Gestalt zu verändern.
Er würde ihr also zu Fuß folgen.
Sie segelte für einen atemlosen Moment mit pochendem Herzen, ausgestreckten Armen und flatternden Haaren durch die warme Abendluft, ehe sie auf einem Grasstreifen außerhalb des Kolosseums wenige Meter vor einer Steinbank landete, wo sich ein Liebespaar gerade leidenschaftlich umarmte. Die beiden lösten sich mit entsetzten Schreien voneinander und riefen verblüfft etwas auf Italienisch. Doch Morgan achtete nicht auf sie und konzentrierte sich stattdessen darauf, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Der Boden unter ihren Füßen war erstaunlich hart, und ihre Landung hatte sich dementsprechend als ziemlich schmerzhaft erwiesen. Aber sie wusste, dass sie nichts gebrochen hatte. Ein Sturz von einer derartigen Höhe war im Grunde nicht weiter schlimm. Sie war einmal von der Spitze einer alten, riesigen Fichte im New Forest bei Sommerley gesprungen und hatte sich kaum irgendwelche Verletzungen zugezogen.
Noch immer auf dem Boden hockend und schwer atmend, warf Morgan einen Blick über ihre Schulter und reckte den Hals, um zu sehen, ob ihr Xander tatsächlich zu folgen gedachte.
Doch das tat er offensichtlich nicht. Er stand noch immer dort oben und starrte zu ihr herab – eine kleine Gestalt in Schwarz, von goldenem Licht erhellt, alleine auf der obersten Ebene des Kolosseums. Seine unheimlichen bernsteinfarbenen Augen musterten sie scharf. Sie fühlte sich stark, lebendig und frei, als sie ihm eine Kusshand zuwarf und dann losrannte.
9
Von der obersten Mauer beobachtete Xander, wie Morgan auf wirklich unverfrorene Weise die Hand vors Gesicht führte, ihre roten, vollen Lippen schürzte und ihm einen Kuss zuwarf.
Trotz seiner Empörung konnte er nicht anders und stieß ein kurzes, ungläubiges Lachen aus. Er war der Ira de Deus, die gefährlichste Waffe der Ikati. Der Bringer des Todes.
Niemand – niemand – hatte ihn jemals derart respektlos behandelt.
Seine Achtung für sie nahm genauso zu wie seine Empörung. Er hatte noch nie jemanden kennengelernt, der es wagte, sich solche Freiheiten herauszunehmen. Sie war unverschämt, aufsässig und zudem tollkühn. Offensichtlich scherte sie sich nicht im Geringsten um seinen Ruf oder die sehr reale Möglichkeit, dass er derjenige sein würde, der ihr Leben beendete.
Sie war … furchtlos. Noch nie zuvor war er einer Frau wie ihr begegnet.
Für einen kurzen, wahnsinnigen Moment, in dem er zusah, wie sie sich auf dem Gras weit unter ihm aufrichtete und barfuß über die Straße losrannte, während die Autos in beiden Richtungen mit kreischenden Bremsen zum Stehen kamen, um sie durchzulassen, vermochte er seine Überraschung und Bewunderung für sie nicht zu unterdrücken. Er konnte nicht anders, als ihr regungslos nachzuschauen. Anmutig und geschmeidig wie eine Gazelle bahnte sie sich einen Weg durch das Chaos aus PKW s, Taxis und Vespas, wobei sie sogar über die Kühlerhaube eines roten Fiats sprang, der nicht rechtzeitig anhielt. Ihr langbeiniger Sprung sah atemberaubend aus.
Automatisch wanderte seine Hand zu den Ba-Gua-Zhang-Messern mit den Halbmondklingen, die in einer kleinen Lederscheide hinten oberhalb seines Pos unter seinem Gürtel befestigt waren.
Die Messer waren ihm von seinem Capoeira-Meister geschenkt worden, als er noch ein Junge war. Sie stammten aus dem fünfzehnten Jahrhundert und waren zum Werfen gedacht. Obwohl sie schon oft zum Einsatz gekommen waren, befanden sie sich noch immer in einem perfekten Zustand und lagen vollkommen in der Hand.
Xander zögerte und ließ dann von seinem Plan ab. Bei jedem anderen hätte er keine Sekunde verloren und eine Klinge zwischen diese schnell in der Ferne verschwindenden Schulterblätter versenkt. Deserteure stellten für ihre Spezies eine echte Bedrohung dar, und er hatte bisher noch jeden erwischt – oder getötet –, wenn man ihm den Auftrag dazu erteilt hatte.
Aber sie ist nicht jeder. Dieser Gedanke stieg unerwartet und klar in ihm auf. Das hier ist sie.
Ohne weiter zu überlegen, was das hieß, hob er den Blick in den Himmel, wo inzwischen die Sterne funkelten und der Mond eine perfekte Perlenform zeigte. Xander schloss die Augen und ließ die
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