Die Verraeterin
anderen Köpfen um sie herum abhob, in einen silbernen Waggon. Gleich darauf schlossen sich die Türen. Xander presste sich als Nebel an die Decke und versuchte sich so dünn wie möglich zu machen und um die Neonröhren zu legen, die das Innere der U-Bahn erhellten.
Es war gedrängt voll. Morgan war nirgendwo zu sehen.
»Schrecklich diesig hier«, bemerkte ein weißhaariger Mann auf Italienisch und blickte von seinem Plastiksitz nach oben an die Decke.
»Das liegt an deinen Augen«, erwiderte seine Frau säuerlich und winkte ungeduldig ab. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du dringend eine neue Brille brauchst?« Sie kramte in ihrer gehäkelten Handtasche und zog ein Brillenetui heraus, das sie ihrem Mann wortlos reichte. Xander nutzte die Gelegenheit, Molekül für Molekül weiter über das kalte Metall und die hart gewordenen Kaugummiüberreste Richtung Türen zu schweben.
Morgan befand sich auch nicht im nächsten Waggon. Oder im übernächsten.
Er brach erst bei der dritten Haltestelle in Panik aus, nachdem er die ganze U-Bahn abgesucht und sie nirgendwo gefunden hatte. Seltsamerweise nahm er nicht einmal ihren Duft wahr – außer in der Nähe der Tür, wo sie eingestiegen war. Während er unbemerkt über den Köpfen der Menschen schwebte und zwei pickeligen Teenagern zuhörte, die über die Vor- und Nachteile von Rapmusik im Vergleich zu Heavy Metal diskutierten, war ihm auf einmal klar, was geschehen war.
Morgan war an der gleichen Haltestelle ein- und wieder ausgestiegen.
Während er eine halbe Ewigkeit wartete, bis der nächste Gegenzug kam, um ihn wieder nach Barberini Fontana di Trevi zurückzubringen – ausgebreitet wie Rauch an den gekachelten und mit Graffiti verzierten Wänden –, überlegte Xander, was er als Nächstes tun sollte.
Morgan hatte sich schon immer eine Tätowierung gewünscht.
Nichts Großes, und nichts, was man auf den ersten Blick sah. Und schon gar nichts Dummes. Sie wollte, dass das Tattoo etwas bedeutete, besonders und außergewöhnlich war und nicht nur eine törichte Verzierung wie ein Schmetterling oder ein Herz.
Auch wenn sie noch nie in ihrem Leben einen tätowierten Schmetterling oder ein Herz gesehen hatte. Jedenfalls nicht auf Haut. Solche Arten von Spielereien waren in Sommerley nicht erlaubt, denn dort ging es vor allem um Pflichterfüllung. Das Leben, die Seele und selbst die Haut des Einzelnen gehörten allein dem Stamm und niemandem sonst. Für die meisten Ikati bedeutete eine Tätowierung eine Abscheulichkeit. Etwas Profanes, etwas, womit die heilige Schönheit ihrer Spezies zerstört wurde.
Etwas Verbotenes.
Genau deshalb verspürte sie das dringende Bedürfnis, sich eines stechen zu lassen.
»Buona sera«, schnurrte der junge Mann hinter der Glastheke und musterte sie mit gierigen Augen. Er war groß und hatte herabhängende Schultern und eine ölige Haut. Seine Haare hätten schon lange einmal gewaschen werden müssen, und sein Atem roch so, als wäre er drei Tage durch Kneipen gezogen. Morgan nahm das sogar unter der Tür wahr. Sie lächelte ihn jedoch an und tat so, als ob sie es nicht bemerkt hätte.
»Buona sera.«
Es war ein kleiner Laden, der von flackerndem Neonlicht in Blau, Gelb und Violett erhellt wurde, was dem Ganzen eine surreale, traumhafte Stimmung wie in einem Kabarett verlieh. An einer Wand standen mehrere Ledersessel, und an der anderen hingen Hunderte von Bildern mit Tätowierungen. Morgan war die einzige Kundin.
Alles in allem war es perfekt.
Der Mann kam hinter der Theke hervor und auf sie zu. Er rückte viel zu nahe an sie heran, wobei sein Blick ausschließlich auf ihre Brüste gerichtet war. Als er etwas Weiteres auf Italienisch hinzufügte, verstand sie nicht, was es war. Der Betonung nach musste es sich jedoch um eine Frage handeln.
»Tattoo?« Sie zeigte auf ihre rechte Hüfte. »Hier?«
Seine Augen wanderten von ihrer Brust zu ihrer Hüfte hinunter. »Hm«, erwiderte er, wobei er aufgeregt klang und seine Lippen mit der Zunge befeuchtete. Es folgten weitere Worte auf Italienisch, die sie zwar wieder nicht verstand, die aber eindeutig vermittelten, was ihm durch den Kopf ging. Dafür musste sie nur sehen, wie er ihre nackten Beine musterte.
Sie drehte sich um, verschloss die Eingangstür des kleinen Ladens mit dem Riegel, der sich daran befand, und zog dann das Rollo herunter. Als sie sich dem Mann wieder zuwandte, starrte er sie mit einer amüsierten Mischung aus Entsetzen und Vorfreude an. Er rieb sich die
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