Die Verraeterin
möglich ist, stolz zu leben.‹ Wissen Sie, wer das gesagt hat?«
Er zögerte keinen Moment mit der Antwort. »Nietzsche.«
Sie lachte, erneut überrascht. »Ein philosophischer Auftragskiller! Genau, Nietzsche. Und er hatte recht. Es ist immer besser zu sterben, als ein Leben in Ketten zu führen. Zumindest das sollte uns gestattet sein, wenn schon alles andere verboten wird.« Ihre Hände zitterten. Sie legte sie auf ihren Schoß und verschränkte die Finger. »Aber auch das wird uns nicht gestattet. Uns wird gar nichts gestattet. Und was mich betrifft – als Frau …«
Sie brach ab. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann fuhr Morgan mit leiser Stimme fort, wobei sie ihre Hände betrachtete. »Ich dachte, dass sich einiges ändern würde, wenn ich Ratsmitglied werde. Ich dachte, die Tatsache, dass ich begabter bin als die meisten Männer in unserer Kolonie, würde etwas ändern. Ich glaubte, ich müsste nur hart genug arbeiten und mein Bestes geben, um so zu sein wie sie … um dazuzugehören … Ich hoffte, dass die Dinge dann … anders sein würden.« Xander rührte sich noch immer nicht. Es wirkte fast so, als würde er nicht einmal mehr atmen. Sie blickte auf und sah ihn fragend an.
»Aber ich habe mich geirrt.«
»Die neue Königin …«, begann er. Doch sie schüttelte den Kopf und unterbrach ihn.
»Das wusste ich noch nicht. Das passierte erst später. Und jetzt …« Sie biss sich auf die Unterlippe, um gegen das plötzliche, schreckliche Gefühl anzukämpfen, losweinen zu wollen. »Jetzt ist es zu spät.«
»Man hat Ihnen die Freiheit versprochen. Die Expurgari haben Ihnen die Freiheit versprochen.« Er sprach leise, und seine Worte klangen nicht anklagend, sondern so, als ob er sie verstehen würde.
Tief in ihrem Herzen wusste Morgan, dass sie ein Feigling war. Sie mochte kühn, klug und selbstbewusst sein, sie besaß viele Eigenschaften, auf die ihre Mutter stolz gewesen wäre, wenn sie sie so gesehen hätte. Aber sie war ein Feigling, weil sie es nicht ertrug: die Isolation, die Unterdrückung, die Geheimniskrämerei, das Schweigen und das schwere Erbe, das ihre Herkunft und ihre Begabungen bedeuteten.
Alle anderen ihrer Spezies konnten es ertragen. Sie hatten es seit Jahrtausenden ertragen. Doch sie vermochte es nicht.
Lieber starb sie.
»Als ich mich das erste Mal mit fünfzehn verwandelt habe«, sagte sie und bemühte sich darum, nicht die Fassung zu verlieren, »wurde ich zum Hüter der Geschlechter gebracht, damit er herausfinden konnte, wer genetisch am besten zu mir passt. Da ich die Gabe der Einflüsterung habe, besaß ich für sie einen gewissen Wert.« Sie sah Xander an. »Zur Fortpflanzung.« Sie holte tief Luft, ehe sie fortfuhr. »Sie wollten, dass ich mich mit der Alpha-Familie verbinde, aber ich wusste, was das bedeutete: überhaupt keine Freiheiten mehr. Also drohte ich, dass ich mich umbringen würde. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für einen Aufruhr das nach sich zog.« Ihre Hand wanderte zu dem Metallring hinauf, der um ihren Hals lag. »Man wollte mich mit dem Anlegen eines solchen Halsbands einschüchtern. Aber ich gab nicht nach. Schließlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als mich ziehen zu lassen. Ich glaube, dass es teilweise an meinem Vater lag, der zu wertvoll für sie war …«
»Warum?«, unterbrach Xander sie neugierig.
Sie blickte ihm in die Augen. »Geld. Er kümmerte sich um die Investitionen unseres Stammes. Er wusste genau, wie viel wir besaßen und wo alles angelegt war. Er tat Tag und Nacht nichts anderes als zählen. Zählen. Zählen. Für ihn gab es nur Konten, Aktien und Fonds. Sonst existierte nichts für ihn.« Sie wandte den Kopf ab und blickte auf die belebte Piazza, wo ein Roma-Mädchen mit großen dunklen Augen und schmutziger Kleidung am Fußende der Spanischen Treppe um Geld bettelte. »Vor allem nachdem meine Mutter gestorben war.«
»Hat er sie geliebt?«
Überrascht wandte sie sich wieder Xander zu. Er betrachtete sie noch immer mit seinen intensiv funkelnden Augen.
»Ja. Sie … Sie wurden durch den Hüter der Geschlechter zueinandergeführt, aber sie haben sich geliebt.«
»Dann sind Sie also ein Kind der Liebe.«
Sie starrte ihn verständnislos an. Liebe?
»Sie entstanden aus ihrer Liebe«, insistierte er.
»Ich … Ja, das stimmt wohl, wenn Sie es so betrachten. Ich bin wohl tatsächlich ein Kind der Liebe.«
Er nickte, als ob ihm dieser Gedanke gefallen würde. Morgan errötete. Es war ihr peinlich,
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