Die Verraeterin
Zunge – salzig und süß zugleich.
»Ich dachte, das hätte ich Ihnen schon erklärt. Ich wollte nicht weglaufen. Ich wollte mich nur etwas umsehen, bevor wir mit unserer Suche anfangen.«
»Das habe ich nicht gemeint, und das wissen Sie auch.«
Seine Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war, vor allem, da zwei ältere Herren am Tisch neben ihnen gerade heftig über ein Schachspiel zu diskutieren begannen. Morgan sah Xander nun doch an, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Sie erwartete einen Ausdruck von Verachtung oder Spott in seiner Miene. Doch dort zeigten sich nur Neugier und noch etwas anderes – etwas, das tiefer ging und das sich in seinen goldenen Augen widerspiegelte. Die Luft zwischen ihnen knisterte.
Angespannt und nervös richtete sie ihren Blick wieder auf ihren Teller. »Was macht es schon für einen Unterschied? Es lässt sich sowieso nicht mehr rückgängig machen.« Sie spießte ein weiteres Stück Melone auf ihre Gabel und ließ diese dann mit einem Klirren auf den Teller fallen, ehe sie sich zurücklehnte. Auf einmal hatte sie keinen Appetit mehr.
»Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, würde ich sagen.«
»Für wen?«, erwiderte sie unglücklich. Das Urteil über sie war gefällt, ihr Schicksal besiegelt. Die Frage nach dem Warum machte für niemanden mehr irgendeinen Unterschied.
»Letztendlich hat alles eine Bedeutung«, lautete seine rätselhafte Antwort. »Wir erinnern uns zwar vor allem an die großen Triumphe und die Momente großen Scheiterns. Aber auch die kleinen, scheinbar unbedeutenden Augenblicke, die vergessenen Details unseres Lebens sind von Wichtigkeit. Alles hat eine Bedeutung, denn alles zusammen macht die Person aus, die man ist.«
Überrascht sah sie ihn an. In seinen Augen spiegelte sich noch immer die gleiche Neugier wider, genauso intensiv wie zuvor. Sie hatte das Gefühl, diesem Blick nicht entkommen zu können, wie ein Fossil, das in flüssigem Bernstein eingesperrt war. Mit einem Schlag verschwand ihre Anspannung und das Gefühl von Elend und wurde von einer Knospe der Hoffnung ersetzt – jener Knospe, die sich bereits am Abend zuvor zum ersten Mal gezeigt hatte. Sie leuchtete in ihrem Herzen wie eine lodernde Fackel.
»Wer ich bin?«, fragte sie unsicher. Wollte er sie etwa auf die Probe stellen?
Er nickte, wobei er seinen Kopf kaum bewegte.
»Ich bin nichts. Ich bin niemand. Ich bin …« Sie räusperte sich gequält. »… eine Verräterin.«
»Wirklich?«, murmelte er wieder so leise, dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
Seine Augen hatten etwas Hypnotisches. In ihnen lagen Sonnenlicht und Schatten, und er musterte sie mit einer solchen Aufmerksamkeit, dass sie das Gefühl hatte, voll und ganz wahrgenommen zu werden. In seinen Augen zeigte sich ein uralter Schmerz, der ihre leuchtende Intensität verdunkelte, aber Morgan gestattete, in einen Brunnen der Qual zu blicken, der so tief war, dass er sie verängstigte. Während er sie beobachtete, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, dass seine Maske aus vollkommener Gleichgültigkeit verrutschte und sie dahinter etwas wahrnahm, das sie nur allzu gut aus eigener Erfahrung kannte.
Schmerz. Genau wie sie wurde auch dieser schöne, gnadenlose Killer von etwas gequält. Er litt.
In diesem Augenblick veränderte sich schlagartig etwas Wesentliches zwischen ihnen.
»Wollten Sie denn nie ein anderes Leben führen?« Sie platzte mit dieser Frage heraus, ohne nachzudenken. Ihre Stimme klang seltsam klein und flehend. Ungeschützt.
»Eine andere Art von Leben?«, wiederholte er tonlos.
»Ich habe von nichts anderem geträumt, seit ich ein kleines Mädchen war«, erwiderte sie impulsiv. »Ich wollte mehr. Ich wollte etwas anderes. Irgendetwas.« Sie wies auf die Leute, die an ihnen vorbeischlenderten, auf die pfeifenden Kellner, auf die diskutierenden Schachspieler, zwei Nonnen, die in ihren schwarzen Gewändern Arm in Arm die Stufen zur Kirche hinaufgingen. »Ich wollte das, was sie haben und was ich nie haben kann.«
Er saß noch immer völlig regungslos da und beobachtete sie, ohne zu blinzeln. Seine Miene wirkte starr. »Freiheit.«
»Genau«, sagte sie, überrascht, dass er es erraten hatte. »Freiheit. Unabhängigkeit. Und vor allem die Möglichkeit, selbst entscheiden zu können, wen ich lieben will.«
Xander wurde aschfahl, als sie diese Worte aussprach. Doch sie achtete nicht darauf, sondern redete weiter. »›Man muss stolz sterben, wenn es nicht mehr
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