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Die Verraeterin

Die Verraeterin

Titel: Die Verraeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. T. Geissinger
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frühzeitig beendet worden waren und deren Erinnerung jetzt nur noch in einem Strich bestand.
    Sie sah ihn an. »Warum?«, fragte sie leise.
    Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Warum was?«
    »Warum zählen Sie mit?«
    Die Frage verblüffte ihn. Er blinzelte, und wieder zeigte sich in den Tiefen dieser undurchdringlichen Augen etwas Unerwartetes, das den Bruchteil einer Sekunde lang an die Oberfläche gelang. Ein Aufblitzen, und es war verschwunden, verborgen hinter der leeren Miene, die sie inzwischen als seine Maske erkannte. Eine sehr gute, sehr geübte Maske, die seine wahren Gefühle gekonnt verbarg.
    Zumindest fast.
    Er antwortete wieder mit dieser tonlosen Stimme, die genauso hohl und leer wie seine Augen wirkte.
    »Damit ich nie vergesse, wer ich bin und wofür ich mich verantworten muss. Damit ich mir nie etwas vormachen kann und nicht auf den Gedanken komme, dass ich etwas anderes als ein Ungeheuer bin.«
    Sie holte scharf Luft. Genauso hatte man auch sie genannt.
    Ihr Herz zog sich zusammen – nicht nur durch den Anblick der Mordzeichen, die er sich in sein Fleisch ritzte, auch nicht durch den Gedanken an den roten Strich, der für ihren Tod stehen würde und der vermutlich die Gruppe von vier vervollständigen würde, die über seiner rechten Brustwarze zu sehen war.
    Ihr Herz zog sich auch seinetwegen zusammen. Für die schrecklichen Folgen, die diese vielen Tode, dieses ganze Morden für seine Seele haben mussten.
    Wollten Sie denn nie ein anderes Leben führen?, hatte sie noch am Tag zuvor gefragt und dabei nur an sich selbst gedacht. Jetzt überlegte sie, wie oft er sich wohl genau das in seinem Leben ersehnt hatte.
    »Ich habe Frühstück bestellt«, sagte sie und räusperte sich, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht auch Hunger.«
    Er starrte sie mit einem Ausdruck an, als ob das das Letzte gewesen wäre, das er in diesem Moment erwartet hätte. Sie wusste genau, wie er sich fühlte.
    »Ich … Ich warte einfach auf Sie, bis Sie sich angezogen haben.«
    Damit drehte sie sich um und verließ langsam das Zimmer. Sie spürte seine Blicke in ihrem Rücken.
    Benommen zog Xander sich an.
    Boxer-Shorts, Hose, Hemd, Schuhe, Stiefel. Messer in seine Stiefel und seinen Gürtel, die Haare kurz und achtlos mit den Fingern kämmend. Er putzte sich die Zähne, legte sich die Armbanduhr um das linke Handgelenk und hatte dabei die ganze Zeit das Gefühl, als ob sein Herz in seiner Brust nur aus einem Stück Holz bestünde.
    Das war neu. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Ich dachte, Sie hätten vielleicht auch Hunger , hatte sie in Erwiderung auf sein offenes Geständnis zurückgegeben. Und diese Tatsache allein hatte ihn zutiefst erschüttert. Das Blut an seinen Händen war so tief in jede Pore, in jedes Atom seines Wesens eingedrungen, und die Dinge, die er getan hatte, waren so schrecklich, dass er das niemals wiedergutmachen konnte. Er war jenseits von jeglicher Rettung, so fern von allem Guten, dass er beinahe schon das Klischee des Bösen darstellte. Und doch hatte sie ihn nicht verdammt. Sie hatte ihn nur mit diesen riesigen, grünen Augen angesehen, sie hatte in ihn geblickt, beinahe, als ob sie …
    Nein! Er durfte nicht weiter darüber nachdenken!
    Sie saß am Tisch auf dem riesigen Balkon und blickte in den roséfarbenen Morgenhimmel. Einen Moment lang beobachtete er sie durch die Schiebetür. Ihre Haare waren zerzaust und fielen schwarz über ihre Schultern und die Kaschmirdecke, die sie sich gegen die kühle Morgenluft umgelegt hatte. Ihr Rock war zerdrückt, da sie offensichtlich darin geschlafen hatte. Er fragte sich, ob sie auf ihn gewartet hatte. Wie lange hatte sie gewartet, ehe sie noch ganz angezogen eingeschlafen war? In dem Licht schimmerte das Metallband um ihren Hals wie eine Rose, wobei ihn der Anblick einen Augenblick lang unzufrieden machte. Das Metall passte nicht zu ihrer feinen Haut.
    Zweimal. Zweimal hatte sie die Gelegenheit zu fliehen gehabt, und beide Male hatte sie sie nicht genutzt.
    Er holte tief Luft und versuchte, die vielen kleinen Emotionen in seinem Inneren zurückzudrängen. Der Gedanke, der unwillkürlich in ihm aufstieg, war so verführerisch, dass er erschreckte. Er schien aus den Tiefen seines Herzens zu kommen.
    Du kannst ihr vertrauen.
    Nein. Vertrauen war etwas für Kinder und für Idioten. Er war weder das eine noch das andere.
    Morgan wandte den Kopf und bemerkte ihn auf der anderen Seite der Balkontür.

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