Die Verraeterin
umsichtig, ja beinahe ehrfürchtig, und ihm war klar, dass sie versuchte, ihm nicht noch mehr wehzutun.
Sie wollte ihm nicht wehtun.
Dieser Gedanke verursachte ihm beinahe ebenso große Schmerzen wie das Stück Glas in seinem Körper. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atmung, während der warme, intensive Duft ihrer Haut ihn umfing.
Nicht schlecht. Das war keine schlechte Art zu sterben. Hier, mit ihr, mit ihrem Duft in seiner Nase und ihren weichen Fingern auf seiner Haut. Er hatte sich schon viele tausend Male vorgestellt, wie es sein würde, wenn er einmal den Tod fand, doch so eine angenehme Variante war ihm nie in den Sinn gekommen.
»Es ist eine saubere Wunde. Aber ich werde nicht lügen. Es sieht schlecht aus«, sagte sie. »Ich werde das Stück nicht herausziehen, weil das es nur schlimmer machen würde.«
Er lächelte und fragte sich, woher sie das wusste.
»Kannst du dich auf die Seite legen?«, fragte sie.
Er öffnete die Augen und sah sie an. Als sie ihm in die Augen blickte, entdeckte er dort weder Angst noch Panik, sondern etwas Kühles, Distanziertes, das beunruhigend berechnend wirkte. Dieser Anblick ließ sein Herz zu Eis gefrieren. Schlagartig wurde ihm klar, dass sie niemanden zu Hilfe rufen würde. Sie würde ihn auf diesem weizen- und cremefarbenen Streifenstoff des Sofas verbluten lassen, um endlich in Freiheit leben zu können.
Im Grunde konnte er ihr daraus keinen Vorwurf machen.
Das Zimmer um ihn herum drehte sich. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
»Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich verstehe«, murmelte er. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, während er sich die perfekten Linien und Flächen, die vollen Lippen und die dunklen Bögen ihrer Augenbrauen einprägte. Verwirrt blinzelnd wollte sie von ihm abrücken, doch er fasste nach ihrer Hand. »Ich weiß, dass du das tun musst, und ich kann dich verstehen. Und … Ich mache dir keinen Vorwurf.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Wofür machst du mir keinen Vorwurf?«
»Dass du mich sterben lässt.«
Als sich ihre Augen weiteten, hob er eine Hand und legte sie auf ihre Wange, um dann mit einem Finger über ihren geschwungenen Wangenknochen zu streicheln.
Wie Seide, vollkommen.
Er lächelte sie an. Dann brach er auf den Kissen des Sofas zusammen und verlor das Bewusstsein.
Die Welle von Gefühlen, die über Morgan zusammenschlug, war so überwältigend, dass sie einen Moment brauchte, um wieder normal atmen zu können. Beinahe befürchtete sie, ebenso wie Xander in Ohnmacht zu fallen.
Wut. Scham. Traurigkeit. Reue. Zorn. Enttäuschung. All das durchflutete sie gleichzeitig.
Er hatte ihr das Leben gerettet, und dann hatte er sie beleidigt. Wieder einmal.
Er hielt sie für eine Lügnerin. Das war inzwischen mehr als deutlich geworden. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben, dass sie nicht mehr weglaufen würde, aber offensichtlich glaubte er ihr nicht. Er hielt sie zudem für charakterlos genug, um ihn auf dem Sofa verbluten zu lassen, nachdem er gerade sein Leben riskiert hatte, um das ihre zu retten. Und dann die Art, wie er sie im Petersdom ansah, nachdem er sie geküsst hatte, um die Verbindung mit dem Mann in Weiß zu durchbrechen. Das hatte sie mehr verletzt, als sie zugeben wollte.
Der Kuss hatte ihr nämlich gefallen. Sie hatte sich darin verloren. Mit seinen Lippen auf den ihren hatte sie etwas gespürt, was sie seit Jahren nicht mehr kannte: eine Verbindung. Greifbar, warm und erhellend – als ob jemand das Licht in einem Zimmer angeschaltet hätte, das lange im Dunklen gelegen hatte.
Doch er hatte nur seinen Job gemacht. Der angewiderte Blick auf seinem Gesicht, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte, war mehr als eindeutig gewesen.
Das alles war nur sein Job. Das durfte sie nicht vergessen. Sie sah sich in dem zerstörten Hotelzimmer um. Wenn sie starb, während sie unter seinem Schutz stand, würde man ihn dafür verantwortlich machen. Mehr war es nicht, und mehr sollte es auch nicht sein. Doch irgendwie gelang es ihr nicht, auch ihr Herz davon zu überzeugen. Es pochte voller Sehnsucht und Verlangen, und sie wollte nicht wissen, warum das so war. Sie wollte es einfach nicht wissen.
Noch immer zitternd stand Morgan auf und fand das Handy in Xanders Aktenkoffer. Genau an der Stelle, genau dort, wo er gesagt hatte. Es fiel ihr schwer, die Nummer zu wählen, da ihre Hände so zitterten und von Xanders Blut noch ganz glitschig waren. Aber es gelang ihr. Sie hielt das Handy ans Ohr und
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