Die Verraeterin
größere Schwierigkeiten zu stoßen. Seine Rippen waren also nicht gebrochen, und da er sowohl Arme als auch Beine bewegen konnte, war auch sein Rückgrat nicht verletzt worden. Er war erleichtert, denn das Letzte, woran er sich erinnern konnte, ehe er das Bewusstsein verlor, war eine schreckliche Taubheit in seinen Beinen gewesen.
Mühsam stand er auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während er die Knie leicht durchdrückte. Sein Rücken protestierte mit einem heftigen, stechenden Schmerz, der sich jedoch aushalten ließ. Er war am Leben, das war das Wichtigste. Ganz gleich, wie stark die Verletzung auch sein mochte – sie würde rasch verheilen. Wenn er nicht tot war, würde es ihm in einigen Tagen wieder gut gehen.
Er durchquerte das Zimmer und entdeckte seine schwarze Hose und ein Hemd, die zusammengelegt über einem Stuhl hingen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er sich langsam an. Seine Waffen lagen ordentlich aufgereiht auf einer Kommode, und er musste lächeln, als er seine Messer wieder an sich nahm. Dann zog er ein paar neue schwarze Stiefel Größe neunundvierzig an und schnürte sie zu.
Schließlich öffnete er die Tür, trat auf den Gang hinaus und machte sich auf die Suche nach ihr.
Das sichere Haus – eines von mehreren Dutzend, die das Syndikat in jeder großen Stadt auf der ganzen Welt zur Verfügung hatte – war eine renovierte Villa im hügeligen, relativ wohlhabenden Aventin-Viertel von Rom. Von hier aus konnte man auf die ganze Stadt und über tausend Quadratmeter Wohnfläche blicken. Von der Straße aus wirkte das Haus mehr wie ein relativ bescheidenes Ziegelgebäude, das um die Jahrhundertwende errichtet worden war und von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun sowie einem Garten mit Bäumen umgeben war. Der weitaus größere Teil des Gebäudes verbarg sich unter der Erde. Neben dem Eingangstor stand ein rundlicher Gartenzwerg, dessen spitze, rote Kappe schon seit Langem von der Sonne gebleicht und pink geworden war. Niemand hätte hier ein Sicherheitssystem erwartet, das mit dem von Fort Knox mithalten konnte.
Die Zimmer und der Aufenthaltsraum befanden sich im Erdgeschoss. Küche, Speisesaal und Fernsehzimmer im ersten Stock, Fitnessraum und Trainingscenter im Keller. Über der Erde war es einfach nur ein Haus. Ein schön renoviertes, leer stehendes Haus, in dem nie jemand aß, schlief oder wohnte. Über der Erde war alles nur Show. Sobald man jedoch durch die doppelt bewehrte Bleitür in den Keller ging, betrat man eine andere Welt.
Xander ging an sechs unbenutzten Zimmern vorüber, wo er nirgendwo auf jemanden traf. Eine Wendeltreppe führte nach oben in den Hauptraum, der in den Farben Dunkelgrau, Braun und Beige dekoriert war und nirgendwo auch nur die Spur einer weiblichen Hand zeigte. Dahinter lagen der Speisesaal und die Küche – modern und maskulin wie der Rest des Kellergeschosses. Als Xander die oberste Stufe der Wendeltreppe erreicht hatte, hörte er Mateos raue Stimme, die in seine Richtung getragen wurde.
»Viel länger halte ich das nicht aus, T.«
Die Antwort waren ein angespanntes Grunzen und dann die Schritte von Stiefeln, die über Fliesen gingen. »Du hältst es nicht aus! Ich habe das Gefühl, als ob ich jeden Augenblick aus der Haut fahren müsste!«
»Wenn er nicht bald zu sich kommt, müssen wir Bartleby hier bei ihm lassen und zurückkommen, wenn sich die nächste Gelegenheit ergibt.«
Xander erstarrte und lauschte angespannt.
»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
»Drei Tage minus sechzehn Stunden«, murmelte Mateo. »Nicht viel.«
Stöhnen. »Mein Gott.«
Xander wartete, aber die beiden sprachen nicht weiter. Er war neugierig geworden und schlich leise in die Küche, wo er unbemerkt unter dem Türrahmen stehen blieb und sie betrachtete.
Seine Jungs. Seine Brüder im Geiste, wenn auch nicht im Blute.
Sie waren Auftragskiller wie er. Die ganze Spezies kannte sie als das Syndikat – und wie er waren auch sie die gefallenen Söhne mächtiger Männer, die bereits als Kinder der brutalen Vormundschaft des Capoeira-Meisters Karyo übergeben worden waren. Karyo war ein Mensch, der für die Manaus-Kolonie arbeitete, weil er sowohl eine perfekte Tötungsmaschine war als auch kein Wort über seine »einzigartigen« Schüler und ihre Herkunft verlor. Dafür wurde er auch großzügig entlohnt. Damals war ihnen nur die Wahl zwischen Karyo und einem Sturz in den Todesbrunnen geblieben. Wenn man dem Namen seiner Familie Schande machte, galt man als
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