Die Verraeterin
Fahrer sich um die eigene Achse drehte, ehe er über den Lenker flog und auf einem Grasstreifen neben der Straße landete.
Julian hielt inne, ehe er »Frauen« sagen konnte.
Das Einzige, was man in einer Bar fand, waren menschliche Frauen. Viele Frauen. Wie die Frau, die Xander vor so langer Zeit geliebt hatte. Und deren bloße Erwähnung dazu geführt hatte, dass der ganze Tag danach im Eimer gewesen war.
»Er hat einen Heldenkomplex«, murmelte Mateo vor sich hin. Er wusste genau, warum Julian so plötzlich schwieg. »Er sucht immer nach einer Frau, die er retten kann.« Doch Esperanza hatte gar nicht gerettet werden müssen, ehe sie sich in Xander verliebt hatte.
Es war eine tragische Geschichte, die man sich als Warnung erzählte. Eine Geschichte, die noch immer in ihrer Kolonie in Brasilien heimlich die Runde machte, auch wenn man natürlich nie vor Xander darüber sprach. Esperanza war die fröhliche, faszinierende Tochter von Karyo, ihrem Capoeira-Lehrer, zu dem Xander im Alter von sechs Jahren gezogen war, nachdem sein Vater wieder geheiratet und seine neue Frau die Kinder aus erster Ehe aus dem Haus gejagt hatte.
Die fünf waren praktisch zusammen aufgewachsen, in einem freudlosen Hinterhof, umgeben von einer großen Anzahl von Waffen. Niemand wusste, was mit Karyos Frau geschehen war oder ob er überhaupt jemals eine gehabt hatte. Den meisten war das sowieso egal. Den Ikati war nur wichtig, dass ihr menschlicher Lehrer den Mund hielt und Killer am laufenden Band produzierte. Und das tat er. Karyo war ein ausgezeichneter Lehrer, und seine Schüler waren überaus begabt. Für alle war das Ganze also eine reine Win-Win-Situation.
Für alle außer Xander und Esperanza, die über die Jahre hinweg, in denen er einem schrecklichen Training ausgesetzt war, während sie in die Schule ging und später einen älteren Mann heiraten sollte, dem sie niemals begegnet war, sich irgendwann ineinander verliebt hatten.
Später hieß es, dass die ganze Sache unweigerlich hatte so laufen müssen. Ein gestörter, starrköpfiger Junge wie Xander Luna – der von seinem Vater als kleiner Junge immer geschlagen wurde und mit ansehen musste, wie sein Vater auch seine Mutter übel verprügelte, weil er herausgefunden hatte, dass Xander schneller gehorchte, wenn er sah, dass seine Mutter litt -– musste einer solchen Versuchung verfallen. Was konnte man von so jemandem auch anderes erwarten?
Jahrelang hatten Xander und Esperanza ihr Geheimnis gut gehütet. Ihnen war nichts anderes übrig geblieben. Wenn man ihre Beziehung bereits früher entdeckt hätte, wären die Ikati sofort eingeschritten, um sie zu beenden.
Für immer.
Doch wie es das Schicksal so wollte, nahmen die Dinge einen anderen, schrecklichen Lauf.
Es war Karyo, der die beiden entdeckte. Die anderen Mitglieder des Syndikats erfuhren niemals, was genau vorgefallen war. Man wusste nur, dass der schöne, misshandelte Körper von Esperanza eines nebligen Morgens in einer Lache ihres eigenen Bluts auf den Pflastersteinen vor der Trainingshalle gefunden wurde.
Ihr Rückgrat war gebrochen. Jemand hatte sie vom Dach heruntergestoßen. Julian, Mateo und Tomás waren alle dabei gewesen, als Xander sie fand und Karyo holte. Dieser stand mit versteinerter Miene neben seiner toten Tochter und starrte sie an.
»Du hast sie umgebracht!«, brüllte Xander den drahtigen alten Mann an.
»Besser tot, als von einem Tier geschändet zu werden«, erwiderte Karyo eisig.
Daraufhin beging Xander mit sechzehn Jahren seinen ersten Mord.
Danach war er untröstlich. Den Ikati war es relativ egal gewesen, dass er Karyo getötet hatte. Menschen waren schließlich austauschbar. Sein eigener Vater hingegen fand das Gerede, das es nun um Xander und Esperanza gab, unerträglich und kam zu der Schule, um Xander gnadenlos zu verprügeln.
Daraufhin beging Xander seinen zweiten Mord.
Nach dem Tod seines Vaters, der vom Rat als gerechtfertigter Totschlag aufgrund der Situation angesehen wurde, wurde sein Halbbruder Alejandro zum neuen Alpha von Manaus ernannt. Xander hingegen kannte seitdem keine Gnade mehr, denn er hatte jedes Gefühl in sich getötet.
Er war innerlich abgestorben.
Nach außen hin funktionierte er. Er wurde der beste Auftragskiller, den die Ikati jemals gehabt hatten. Innerlich jedoch war er ein Toter. Ein Zombie.
» TIA «, murmelte Julian vor sich hin. Dann atmete er hörbar und langsam aus. »Also gut. Sag mir schon, wie ich zu dieser Bar komme. Ich könnte jetzt einen
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