Die Verraeterin
Bartleby: »Sie hat mich gebeten, ihr kein Morphium mehr zu geben.«
Xander wirbelte herum. Er war schockiert. »Was? Ich dachte, du meinst, dass es ihr helfen würde. Ich dachte, sie hätte Schmerzen …«
»Die hat sie auch. Und die wird sie noch die nächsten zwei Tage haben.« Er legte den Kopf zurück und musterte Xander durch seine Bifokalbrille. »Aber sie meinte, dass sie dir nicht noch weitere Ausreden liefern wolle.«
Xanders Brust zog sich zusammen. Seine Lunge weigerte sich auf einmal, weiterhin Luft aufzunehmen. Seine Stimme klang leise und angespannt. »Ausreden wofür?«
Der Doktor lächelte. »Ausreden dafür, dass du nicht das beendest, was du angefangen hast.«
Mein Gott. Grundgütiger. Xander stand fassungslos da, während Bartleby ihn gelassen wie Buddha ansah. Das Mondlicht schimmerte auf seiner Brille. In der Ferne war ein leises Donnern zu hören, und irgendwo begann ein Hund zu heulen.
»Geh schon.« Der Arzt ließ sich wieder auf dem Liegestuhl nieder. Er streckte die Beine aus und legte den Kopf weit zurück, um zu beobachten, wie der Mond am Himmel hinter einer Gewitterwolke verschwand. »Geh und versuche, dir klar zu werden, was eigentlich los ist. Vielleicht findest du dann etwas Seelenfrieden. Den hast du dir nach all den Jahren wirklich verdient.«
Ich habe nicht das beendet, was ich angefangen habe .
Dieser Satz wiederholte sich in Xanders Kopf wie eine kaputte Schallplatte, während er langsam durch das dunkle Haus wanderte. Er ging die zwei Treppen nach unten zu den Schlafzimmern, wo er erst an diesem Morgen wieder zu sich gekommen war. Eine Weile blieb er auf dem Treppenabsatz stehen und starrte den langen Korridor entlang auf die Tür, hinter der Morgan lag – seit er vor ihr geflohen war. Sein Herz klopfte so heftig, dass er glaubte, es könnte durch seine Rippen brechen, explodieren und ihn töten.
Sie war nicht bei sich. Sie hatte das nicht ernst gemeint. Sie hatte nur versucht, ihn zu reizen und zu etwas zu bringen, über das sie sich später lustig machen konnte.
So war es doch – oder?
Ihr Duft hing in der Luft und stieg ihm erneut in die Nase. Er lockte ihn weiter, einen Schritt nach dem anderen auf ihre Tür zu. Die Kraft ihres Fiebers pochte wie Pulsschläge über seine Haut. Er wusste genau, was ihn hinter der Tür erwartete, und fragte sich, ob dies Gottes Art war, ihn für all das zu bestrafen, was er in seinem Leben getan hatte. Es fühlte sich jedenfalls nach einer Strafe an.
Hinter der geschlossenen Tür war ein leises Stöhnen zu hören, und wieder glaubte er, sterben zu müssen. Verlangen flammte in ihm auf, heiß wie die Sonne und alles verzehrend. Ein statisches Knistern dröhnte in seinen Ohren.
Seine Füße bewegten sich von selbst den Korridor entlang.
Er legte seine offene Handfläche auf die geschlossene Tür und stand mehrere Sekunden lang so da, auf die Arme abgestützt, regungslos. Es vergingen Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, während er gegen alles ankämpfte, was sich in seinem Körper instinktiv nach der Frau in dem Zimmer sehnte.
Das wirst du nicht tun. Du wirst nicht die Beherrschung verlieren. Nach so etwas gibt es kein Zurück. Es wird nichts Gutes daraus entstehen …
Wieder hörte er ein leises Stöhnen, und Xanders Wille begann zu bröckeln. Er legte seine Hand auf den Türknauf und drehte ihn langsam.
Der Duft, der durch die offene Tür zu ihm drang, war so überwältigend und betäubend, dass er ins Wanken kam. Eine Welle nach der anderen von duftender Schönheit überrollte ihn. Das Tier in ihm fauchte unbändig und drängte danach, freigelassen zu werden.
Xander öffnete die Tür noch weiter. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erstarren.
Das Zimmer war völlig durcheinander. Alle möglichen zerbrochenen Gegenstände waren auf dem Boden zerstreut: eine Lampe, eine gelbe Vase und ein Flachbildschirm-Fernseher, der über einer schmalen Anrichte gehangen hatte. Ein gerahmtes Ölgemälde war zerfetzt worden und lag ebenfalls in einer Ecke. Die Leintücher waren zerwühlt, und die Satindecke lag zerknüllt am Fuß des Bettes. Das Bett selbst war leer. Panisch sah Xander sich in dem dunklen Zimmer um. Morgan war weder auf dem Boden noch auf dem Stuhl oder sonst irgendwo zu sehen …
Aus dem angrenzenden Badezimmer war das Rauschen von Wasser zu hören, gefolgt von einem lauten Krachen.
Er schoss durch das Zimmer, riss die Badezimmertür auf und blieb abrupt neben dem Waschbecken stehen. Morgan hockte auf dem
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