Die Verratenen
die Nacht lebendig. Geräusche, ein Schaben an der Mauer. Sind es Wölfe? Ist es der verbliebene Schlitzer? Oder nur der Wind, der sich in Steinritzen fängt?
Ich könnte schwören, die ganze Nacht wach gelegen zu haben, doch als morgens die Tür zum Keller aufspringt, schrecke ich aus tiefem Schlaf auf.
Während ich mich aus der Decke und aus Aureljos Umarmung schäle, vertreibe ich ein letztes Traumbild: Tomma, wie sie Yann umfängt und sich dann zu mir umwendet, ihre Pupille dunkel, die Iris gelb wie die eines Falken.
Ich soll zu den Sammlern, gemeinsam mit Tycho. Das ist gut, weil ich ihn im Auge behalten will. Doch von Beginn an lenkt mich das Getuschel ab, das rund um uns herum entsteht, egal, wohin wir uns bewegen.
Die Nachricht über die Schlitzer hat die Runde gemacht, aber nicht nur das; es weiß auch jeder, nach wem sie gesucht haben.
»… kommen sicher noch mehr von ihnen.«
»Ja, und denen ist es egal, wen sie erwischen.«
»… müssen wir es wieder ausbaden.«
Gestern, bei Fiore und Quirin, hatte ich kurz das Gefühl, willkommen zu sein. Heute ist alles wieder anders. Ich warte nur darauf, dass eins der Grüppchen, die in beträchtlichem Abstand zu uns die Köpfe zusammenstecken, beginnt, mit Steinen zu werfen.
Wir legen Teile eines Gebäudes frei, von dem Andris behauptet, es sei früher ein Krankenhaus gewesen. Es steht nahe am Fluss, nur wenige Minuten von der Brücke entfernt, über die ich gestern gelaufen bin. Ob das rote Tuch noch am Geländer festgebunden ist?
»… schleichen noch in der Nähe herum.«
»Angeblich haben sie heute früh zwei tote Scharten gefunden, mit durchgebissenem Hals. Halb aufgefressen.«
»… wir sollten sie in den Fluss werfen.«
Immer wieder blickt sich Tycho verunsichert um. »Was haben die denn auf einmal? Gestern waren sie doch noch völlig begeistert von meiner Idee, eine Wetterstation zu bauen.« Er macht einen ehrlich betrübten Eindruck. Aber ich kann ihm nicht sagen, was passiert ist, ihm am wenigsten.
»Komm.« Ich ziehe ihn von den anderen Sammlern fort. »Dort hinten sieht es vielversprechend aus.«
Ein Schuss ins Blaue, aber er erweist sich als richtig. Wir legen ein kastenförmiges Gerät frei, aus dem brüchige Kabel ragen. Es muss früher ein Display gehabt haben, doch davon sind nicht einmal mehr Scherben übrig.
»Ein Ultraschallgerät, 21. Jahrhundert.« Tycho streicht den Staub mit der flachen Hand weg. »Aus der Zeit vor der Langen Nacht. Das möchte ich mir näher ansehen.«
»Andris!«, schreie ich. »Wir haben einen Fund.«
»Jetzt warte doch.« Mit einer Mischung aus Ärger und Besorgnis wirft Tycho einen Blick über die Schulter. »Er weiß doch gar nicht, was er damit anfangen soll.«
»Egal.« Gerade heute will ich nicht riskieren, dass uns jemand das Zurückhalten von Funden vorwirft. Ebenso wenig möchte ich, dass Tycho sich weiteres Material für seine Anlage abzweigt.
Andris kommt, nickt und trägt das Gerät aus dem Gebäude.
»Ihm wird es nichts bringen, ich hätte vielleicht etwas daraus bauen können«, murrt Tycho.
»Mir fällt nichts ein, das wertvoll genug wäre, um Ärger mit den Dornen zu riskieren.«
»Nie Risikoabwägung belegt?«, schnauzt er mich an, bevor er mit den Schultern zuckt und fortfährt, Schutt zur Seite zu schaufeln.
Ich antworte nicht. In Risikoabwägung habe ich mich ein Jahr lang unterrichten lassen, dann wurde mir das Fach zu theoretisch.
Weitergraben. Ich schone meinen verletzten Arm und komme langsamer voran als je zuvor. Das Tuscheln unter den anderen Sammlern hat sich gelegt, jeder ist vollauf mit seiner Arbeit beschäftigt, denn das ehemalige Krankenhaus birgt in seinen Zimmern und Schränken noch unzählige Schätze. Keine Medikamente natürlich, die wären ohnehin längst wirkungslos oder giftig, außerdem wurden damals, als die Versorgung zusammenbrach, schon sehr bald die Krankenhäuser geplündert.
Aber es gibt Injektionssets, eine Art Trichter, altes Papier und sogar eine unberührte Packung Latexhandschuhe. Die würde ich diesmal gern behalten oder Fleming schenken. Ob sich hier irgendwo noch Nahtmaterial findet?
Etwa der halbe Tag ist vergangen, da beginnt es zu regnen. Die Tropfen klatschen auf den Boden vor dem Krankenhaus, spritzen durch die Fensterlöcher zu uns herein. Feiner Staub verwandelt sich in Schlamm.
Diesmal ist mir die Risikoabwägung egal. Ich habe aufgehört zu arbeiten, stehe an einer der Öffnungen in der Wand und bestaune das fallende
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