Die Verratenen
er zögernd, »hieß es immer, meine Stärke sei Vielseitigkeit.«
»Was genau ist damit gemeint?«
Aureljo lächelt dieses unwiderstehlich bescheidene Lächeln, das nur deshalb wirkt, weil es völlig ungekünstelt ist. »Logisches Denken, Taktik, Rhetorik – obwohl Ria mich dabei um Längen schlägt. Wissenschaftliche Fähigkeiten und ein bisschen Musikalität. In allem brauchbar, aber in nichts der Beste.«
»Ja«, murmelt Quirin, wieder völlig in sich gekehrt. »Ein Alleskönner.« Er atmet tief ein, als läge plötzlich eine Last auf ihm. »Es ist wohl lohnend, dich besser kennenzulernen, wir sollten –«
Weiter kommt er nicht, denn die Tür zur Halle fliegt auf, knallt gegen die dahinterliegende Wand. Sandor steht im Eingang, hinter ihm drei seiner Jäger.
»Ich muss mit den Lieblingen sprechen.« Seine Stimme ist heiser, sein Finger zeigt auf mich. »Du! Und der neben dir, mitkommen.«
Es muss etwas mit den Flüchtlingen zu tun haben. Jemand hat uns beschuldigt, bei dem Überfall dabei gewesen zu sein oder den Sentinel einen Tipp gegeben zu haben.
Doch dann ist es schlimmer und gleichzeitig besser als in meiner Vorstellung.
Besser, weil es nicht so aussieht, als würde uns jemand ungerechtfertigte Vorwürfe machen wollen. Schlimmer, weil Sandor uns vor das Gebäude führt und ich die reglose Gestalt mit den verdrehten Gliedern schon von Weitem sehe. Und rieche. Es stinkt nach Moder, Unrat und anderem, das ich mir nicht vorstellen will. Dann stehen wir vor dem Toten und ich versuche, ihm ins Gesicht zu sehen.
Trotz des Lichts von einer der konfiszierten Stablampen aus unseren Notfallsets sind die Züge des Mannes kaum zu erkennen. Was daran liegt, dass sie bemalt sind, mit dunklem, vertrocknetem Rot, dem Ocker alten Schlamms und etwas Weißem, das ich nicht identifizieren kann. Zottiges, verkrustetes Haar umgibt seinen Kopf, die Arme und Hände sind von Narben übersät. Aus Brust und Bauch ragen Pfeile.
»Ein Schlitzer.« Sandor kniet sich neben die Leiche, zieht mit zwei Fingern die Lippen des Toten auseinander und legt spitz gefeilte Zähne frei.
Das also hat Fiore gemeint.
»Eigentlich waren es zwei, aber wir haben nur einen von ihnen erwischt, der andere hat sich zwischen die Bäume geflüchtet.«
Der Tote hält etwas in der Hand, eine lange, dünne Klinge, deren Wirkung auf menschliches Fleisch ich mir nicht vorstellen will. Warum hat Sandor uns geholt? Wieso zeigt er ausgerechnet uns diese Leiche?
»Der zweite Schlitzer hat dem ersten etwas aus der Hand gerissen, bevor er geflohen ist. Aber er hat nicht alles erwischt.«
Einer der Jäger reicht Sandor ein Stück Papier, etwa so groß wie meine Handfläche.
»Seht es euch an.«
Ich trete vor, nehme es entgegen.
Der Strahl der Stablampe fällt auf ein schwarz-weißes Abbild meines Gesichts.
Eleria, 18 Jahre, Vitro Klasse 1b, Akademiereihung Nr. 7, steht da. Daneben mein Geburtsdatum, Größe und Gewicht, meine Quartiernummer und die Seriennummer meines Salvators.
Ich kenne diese Daten. Das ist mein Stammdatenblatt. Die Verwaltung der Akademie erneuert die Blätter jedes halbe Jahr. An den Tag, an dem das Foto gemacht wurde, kann ich mich noch genau erinnern: Draußen herrschte ein Schneesturm, die Heizelemente waren überlastet und pfiffen ununterbrochen.
Allerdings wurde hier mein Datenblatt in ein kleineres Format kopiert; ganz klar, warum: Wir sollten alle sechs auf ein normales Stück Papier passen. Doch nur der Teil, der mich betrifft, ist in der Hand des Schlitzers zurückgeblieben. Und eine Ecke, auf der man einen Bruchteil des nächsten Fotos sehen kann. Dem Haaransatz nach muss es Dantorian sein.
»Du begreifst, was das heißt?« Sandor stellt die Frage an mich, aber Aureljo kommt mir mit einer Antwort zuvor.
»Die Schlitzer sind auf der Suche nach uns. Jemand muss sie beauftragt haben und das kann nur der Sphärenbund gewesen sein. Von niemandem sonst hätten sie diese Informationen bekommen können.«
»Richtig. Die Lieblinge haben scheinbar beschlossen, euch nicht selbst zu töten, sondern Clans zu beauftragen, die für ihren Blutdurst bekannt sind.« Aus einer Art Rucksack befördert Sandor einen Schockstab, wie die Sentinel ihn verwenden, außerdem eine Heizkartusche mit Patronen zum Nachfüllen. Ein absolutes Luxusgut, das selbst wir nur in seltenen Fällen bei Exkursionen verwenden durften.
Den Zettel mit den Fotos und den Schockstab könnten die Schlitzer von Sentineln, die auf der Suche nach uns sind, erbeutet
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