Die Verratenen
kleines Mädchen. Ist es wirklich Yann, der sie so glücklich macht? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Aber irgendetwas muss sie hier draußen gefunden haben, das sie in den Sphären vergeblich gesucht hat.
»Der muss dann weg hier.« Ohne dass ich sie gehört hätte, ist eine der alten Frauen aus der Küche hinter mir aufgetaucht. »Oder soll er noch hier liegen, wenn das Essen kommt, hm? Sollen wir ihm die Platten auf den Bauch stellen?«
Ich schüttle den Kopf. Nein, natürlich nicht. Aber allein kann ich ihn nicht wegtragen.
»Ah. Sprichst nicht mit mir, hm? Verdammte Lieblinge. Arrogant bis über beide Ohren. Hätten sie mich gefragt, wärt ihr schon längst Wolfsfutter. Als Arbeiter taugt ihr nichts.« Damit spricht sie aus, was die meisten hier wahrscheinlich denken.
Ich deute auf meinen Hals und hoffe, sie versteht, dass ich zwar antworten will, aber nicht kann, doch sie zuckt nur mit den Schultern.
»Ja, ja. Und dann auch noch so zarte Pflänzchen. Jeder Kratzer gleich ein Weltunter–«
Ein Schrei unterbricht sie, ein fast unmenschlicher Laut, voller Panik, Schmerz, Entsetzen.
Tomma, das ist Tomma! Mit einem Schlag ist mir kälter als jemals zuvor, ich lasse Tycho bei der alten Frau zurück und renne los, ohne zu wissen, woher der Schrei genau gekommen ist. Aber wenn ein Sentinel seine Schlinge um Tommas Hals gelegt hat, muss ich schnell sein, schnell.
Wider besseres Wissen versuche ich, um Hilfe zu rufen, vielleicht gehorcht mir meine Stimme wenigstens im äußersten Notfall, doch es kommt kein Ton, nicht einmal ein Krächzen heraus.
Egal. Weiter. In unser Zimmer, da wollte Tomma hin.
Treppen hoch, mein Atem geht keuchend, im Laufen greife ich nach einem losen Stein, mit dem ich dem Sentinel den Schädel einschlagen werde. Dass sie bis hierher vordringen würden, hätte ich nicht gedacht.
Zwei Mädchen kommen mir entgegen, ich remple sie zur Seite, noch keine Spur von Tomma und niemand hier, von dem ich Hilfe erwarten könnte.
Eine Treppe noch. Nicht stehen bleiben. Jetzt höre ich ein Schluchzen, jemand wimmert, und obwohl es beängstigend klingt, ist es ein gutes Zeichen, wenigstens bekommt Tomma Luft, vielleicht wird sie nur bedroht, vielleicht ist es noch nicht zu spät …
Da vorne ist die Tür zu unserem Zimmer. Sie steht halb offen, gleich bin ich da, gleich –
Fast wäre der Stein aus meiner schweißnassen Hand geglitten. Das Schluchzen wird lauter, ich höre Tomma etwas stammeln, das gleiche Wort, immer und immer wieder. »Nein.«
Dann bin ich an der Tür, die Hand mit dem Stein zum Schlag erhoben – aber es ist kein Sentinel zu sehen. Auch im toten Winkel neben der Tür lauert niemand, der Raum ist leer, bis auf Tomma natürlich.
Und bis auf denjenigen, neben dem sie kauert.
»Nein«, weint sie noch immer, »nein, nein.«
Mein Herz hämmert so heftig, dass es fast wehtut. Da ist Blut auf dem Boden, viel Blut. Aber ich habe mich um den falschen Freund gesorgt. Die Sentinel haben nicht Tomma erwischt, sondern Fleming.
Er liegt ausgestreckt auf dem Rücken, bewegungslos … tot.
Nein. Nein, vielleicht noch nicht tot, wenn wir uns beeilen, wenn jemand Quirin zurückholt …
Nach Hilfe rufen, schnell. Ich rufe, kann mich aber nicht einmal selbst hören, das Blut, das in meinen Ohren rauscht, ist lauter als jeder Ton aus meiner Kehle.
Niemand kommt.
Ich packe den Stein fester und schlage ihn gegen die Mauer, gegen ein Stück Blech am Fenster. Fester, so fest ich kann. Jemand wird es hören. Aureljo, hoffentlich Aureljo, er kann Fleming helfen …
Erst jetzt, aufgrund des Lärms, den ich produziere, entdeckt Tomma mich. »Er ist … Sie haben … Schau nur, Ria.«
Ich kann nicht, nicht bevor Hilfe kommt.
Tomma … Warum schreit sie nicht das Haus zusammen? Ich möchte sie schütteln. Warum tut sie nichts?
»Du kannst aufhören«, schluchzt sie. »Hör doch auf.«
Sie hat recht. Natürlich. Wichtiger ist, dass ich mich um Fleming kümmere. Herzmassage, Beatmung. Werde ich das können?
Ich durchquere das Zimmer, knie mich hin, es ist, als befände ich mich unter Wasser. Jede meiner Bewegungen ist langsam und mühsam. Jetzt sehe ich Flemings Gesicht, der Mund steht offen, die Augen ebenfalls, wenn auch nur halb …
Es ist nicht mehr nötig, seinen Puls zu fühlen, aber ich tue es trotzdem, taste verzweifelt sein Handgelenk ab, seinen Hals. Doch alles, was ich spüre, ist mein eigener, rasender Herzschlag.
Dass Tränen über mein Gesicht laufen, begreife ich erst,
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