Die Verratenen
zu konzentrieren. Wenn ich imstande bin, sein Verhalten richtig zu lesen, kann ich ein Gespräch riskieren. Er fühlt sich nicht von uns bedroht, natürlich nicht, er muss es also nicht eilig haben, uns zu töten.
»Wir sind keine Feinde«, erkläre ich. Meine Stimme klingt so ruhig, dafür müsste Grauko mir fünf Punkte geben. »Wir sind Flüchtlinge.«
Ich könnte genauso gut mit den Wänden sprechen, denn der Wolfsmann beachtet mich nicht. Er ist in den Raum getreten und steht nun direkt vor Dantorian. Versetzt ihm einen Tritt gegen die Hüfte. Dantorian beißt die Zähne zusammen.
Mit einem Achselzucken dreht der Mann sich um. »Sandor!«, brüllt er noch einmal. »Milan! Yann! Hennik!«
Ein weiterer Mann betritt das Haus. Er ist jünger und schmaler gebaut als der Wolfsgott, sein Haar ist dunkel und reicht ihm bis zum bartlosen Kinn. Kluge, flinke Augen, die die Situation in Sekundenschnelle zu erfassen scheinen. In der linken Hand hält er einen langen Bogen, in der rechten drei Pfeile. Mir fallen seine ungleichen Handschuhe auf, einer ist kurz und mit Lederstreifen umwickelt, der andere lang, ganz aus Leder gefertigt, und reicht bis zum Ellenbogen.
Der Dunkelhaarige mustert uns mit ausdruckslosem Gesicht. Ich versuche Neugierde, Aggression oder Vorsicht darin zu finden, aber da ist nichts außer einer Entschlossenheit und Konzentration, wie ich es bei einem Prim niemals erwartet hätte.
Als er sich mir zur Gänze zuwendet, glaube ich erstmals, eine Regung zu erkennen, einen Hauch von Spott in seiner Miene, hervorgerufen durch die leicht hochgezogene linke Augenbraue. Dann wird mir klar, dass es sich um eine Narbe handelt, die ebendiese Augenbraue teilt.
Hinter dem Dunkelhaarigen drängen sich zwei weitere junge Männer durch die Tür. Einer davon ist verletzt – eine klaffende Platzwunde an der Stirn – und wirkt zutiefst niedergeschlagen. Der andere strahlt als Einziger Wut aus, wie ein Heizkessel Hitze, und scheint mehr als bereit zu sein, diese Wut an uns auszulassen. In seiner rechten Hand liegt ein schwerer Holzprügel, an dem Blut und Tierhaare kleben.
»Ich habe Maia nach hinten gelegt«, sagt der mit der Platzwunde.
»Waren das die hier?« Die blutverklebte Keule weist auf uns.
»Nein. Es waren Scharten. Weit in der Überzahl und gut bewaffnet.«
Scharten? Ich durchforste meine Erinnerung, ohne Erfolg. Vielleicht habe ich mich auch verhört, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um nachzufragen. Die drei jungen Männer gehen in den hinteren Raum, während der Wolfsgott bei uns bleibt. Er hindert mich nicht daran, den dreien einige Schritte zu folgen.
Es ist nicht Neugier, die mich die Szene beobachten lässt, sondern der pure Wunsch zu überleben. Diese Menschen sind mir fremder als alle, die mir bisher begegnet sind. Wenn ich mit ihnen verhandeln möchte, muss ich sie einschätzen können. Aureljo ist mir in den Nebenraum gefolgt, hält sich aber nahe der Wand, ein schützender Schatten.
Der Junge mit der Platzwunde kniet sich neben das tote Mädchen. »Seht ihr?«, wimmert er. »Ich konnte nichts mehr tun. Der zweite Pfeil hat sie getötet und dann haben sie sie noch mal getroffen …« Er streichelt dem Mädchen übers Haar, über die Schulter. »Ich hatte sie zugedeckt«, murmelt er kaum hörbar.
Der Dunkelhaarige löst seinen Blick von der Leiche und heftet ihn auf mich. Völlig ruhig. »Ich habe die Decke gesehen, Milan«, sagt er. »Sie haben sie ihr weggenommen. Genauso wie die Stiefel. Wenig verwunderlich, sie sind es gewohnt, sich alles zu nehmen.«
»Aber …«, Milan schluchzt jetzt. Ihm muss sehr viel an der Toten gelegen haben, er liegt nun neben ihr auf dem kalten Boden, seine Stirn berührt ihre.
Dass Aureljo und ich das Szenario richtig eingeschätzt haben, ist kein schlechtes Zeichen. Die Prims handeln nicht viel anders als wir; ich werde sie lesen können. Holprig vielleicht, aber es wird gehen.
Wie um mir zu widersprechen, macht der Dunkelhaarige einen so plötzlichen Schritt auf mich zu, dass ich beim Ausweichen fast nach hinten kippe.
»Ihr nehmt, was ihr bekommen könnt, von den Lebenden und den Toten. Aber die Lebenden wehren sich.« Ich höre keinen Vorwurf in seinen Worten, sie sind eine reine Feststellung. Das ist gefährlicher, als ich dachte. Ich werde in ihm kein Mitleid oder Verständnis wecken können.
»Ich bin Ria«, sage ich und sehe ihm mit aller Ruhe, die ich aufbringen kann, in die Augen. »Meine Freunde und ich sind in einer Notlage. Dantorian
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