Die Verratenen
untersucht mit geschickten Händen die Wunden, verschafft sich einen Überblick.
»Schwer zu sagen, wie lange sie schon tot ist. Bei dieser Kälte sinkt die Körpertemperatur viel schneller als in den Sphären. Einen Tag, würde ich schätzen. Das heißt, diejenigen, die sie getötet haben, könnten immer noch in der Nähe sein.«
Vielleicht. Vielleicht verfolgen sie auch den Gefährten des Mädchens. Ich habe draußen menschliche Spuren gesehen, nur war leider keine Zeit, sie zu lesen.
»Die Decke ist jedenfalls hilfreich«, meint Tycho. »Wir sollten sie Dantorian geben, er friert am meisten.«
Der Gedanke ist richtig, zweifellos. Eine Decke nutzt den Lebenden mehr als den Toten. Trotzdem widerstrebt mir die Idee. Jemand hat dieses Mädchen gemocht, wer weiß, wie sehr. Ihr die Decke zu geben war alles, was er noch für sie tun konnte.
Natürlich darf das kein Grund sein, einen Verletzten frieren zu lassen. Ich halte Tycho nicht von seinem Vorhaben ab, er handelt logisch und das ist gut.
»Dann nehme ich mir die Schuhe!« Ich habe Tomma nicht hereinkommen hören, aber hier steht sie nun, ihr feindseliger Blick ist abwechselnd auf mich und die Tote gerichtet.
Warum? Die Frage liegt mir auf der Zunge, aber eigentlich ist sie überflüssig. Tomma will uns zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt ist. Genauer gesagt, will sie es mir zeigen, weil ich ihr Schwäche vorgeworfen habe. Nun demonstriert sie, wie gut sie im Überleben ist.
Das tote Mädchen trägt grob zusammengenähte Stiefel aus rötlichem Fell, die fast bis zum Knie reichen. Ich versuche mich zu entsinnen, welches Tier ein solches Fell hat, aber ich komme zu keinem Ergebnis.
»Du hast doch Thermoschuhe.« Über Aureljos Nase ist eine steile Falte erschienen; ihm gefällt der Gedanke, das Mädchen aller brauchbaren Dinge zu berauben, ebenso wenig wie mir.
»Und? Diese hier bedecken die Wade, da läuft so schnell kein Schneewasser hinein. Außerdem nehme ich niemandem etwas weg – der tote Prim braucht sie bestimmt nicht mehr.«
Das ist nicht Tomma, wie ich sie kenne. Was sie sagt und tut, ist eine Reaktion auf meine Worte. Ich habe einen Fehler gemacht, der mich nun zwingt zuzusehen, wie sie der Toten die Stiefel von den steifen Beinen zieht. Niemand sagt etwas, Aureljo schüttelt nur leicht den Kopf.
Die Unterschenkel des Mädchens, die zum Vorschein kommen, sind sehnig, aber dünn. Mir fallen die Babys ein, die ich in der Auffangstation besucht habe. Unterernährt, alle. Wenn sich nicht einmal die Menschen, die von Geburt an an die Bedingungen der Außenwelt gewöhnt sind, ausreichend Nahrung beschaffen können, wie sollen wir sechs das dann schaffen?
Fleming hat recht. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als eine Sphäre anzusteuern und zu hoffen, dass wir sie lebend erreichen. Wahrscheinlich macht es auch Tomma richtig, indem sie sich so viele Vorteile wie möglich verschafft. Man muss nicht so denken wie ich. Man muss das hier nicht insgeheim Leichenfledderei nennen.
Ich verlasse den Raum. Tycho ist damit beschäftigt, Dantorian in die Decke zu wickeln. Fleming hat es offenbar geschafft, die Bisswunde zu säubern, er hat sie verbunden und den Verband mit etwas fixiert, das aussieht wie ein hellblauer Strumpf, tatsächlich ist es aber der Trinkwasserfilter aus unserem Notfallset.
Ich gehe neben Dantorian in die Hocke. »Wie geht es dir?«
»Erträglich.« Sein Lächeln ist nicht echt. »Ich hätte mehr Lauftraining machen sollen.«
»Wirst du weitergehen können?«
Die Art, wie sein Blick zu mir hochzuckt, verrät, dass der Gedanke ihm Angst macht, er aber nicht möchte, dass ich das mitbekomme. »Sicher«, erwidert er. »Ist ja nicht so, dass ich die Wahl hätte.«
Von außen prallt wieder etwas gegen die Tür. Das Jaulen und Winseln der Wölfe wird hektischer. Sie machen mich nervös, diese Laute, die ich nicht deuten kann.
Niemand von uns hat Außenkunde besonders ernst genommen. Wir wollten ja keine Sentinel werden, um die Welt außerhalb der Sphären sollten sich die anderen kümmern, die weniger Begabten. Das bisschen, das wir über Wölfe wissen, wird nicht reichen, um uns zu retten. Wie viele Tage kommen sie ohne Nahrung aus? Was macht ihnen Angst, mal abgesehen von dem Geheule des Salvators?
Ich habe keine Ahnung. Doch mir ist klar, dass wir diese Ruine nicht verlassen können, solange das Rudel draußen wartet. Wir können aber auch nicht mehr ewig hier ausharren – es ist zu kalt und wir haben kaum Lebensmittel.
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