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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Ich würde Fleming gerne fragen, ob er Erfrierungen behandeln kann, aber ich tue es nicht, aus Angst vor seiner Antwort. Einmal wurde ein Sentinel mit erfrorener Nase ins Medcenter gebracht, als ich dort freiwillige Stunden geleistet habe. Die Nase war schwarz und nach der Behandlung war sie fort.
    Meine Gedanken kreisen um die einzige Möglichkeit, die mir einfällt. Sie ist schauderhaft und sie hat mit dem toten Mädchen zu tun. Leichtes Futter. Würden die Wölfe sich eher darum balgen, als uns zu jagen?
    Scham beißt ebenso scharf wie Kälte. Nein. Das kann ich nicht. Noch nicht.
    Krachen. Jaulen. Davon beinahe überlagert, ein neuer Laut, den ich gestern erstmals gehört habe und der sofort meinen Salvator vibrieren lässt.
    Das Sirren einer gespannten und dann losgelassenen Sehne. Das Geräusch eines Pfeilschussgeräts.
    Meine Kehle wird so eng, dass ich kaum noch schlucken kann. Sie sind zurück, wahrscheinlich zu mehreren, damit ihnen nicht noch einmal das gleiche Missgeschick passiert. Jetzt müssen sie nur noch die Tür aufbrechen, den Rest können sie getrost den Wölfen überlassen.
    Wie einfach wir es ihnen gemacht haben.
    Ein Wolf heult auf – es klingt anders als bisher. Wenn ich wenigstens nach draußen sehen könnte …
    Und dann höre ich menschliche Stimmen. Jemand ruft etwas, ein Zweiter und ein Dritter antworten. Männer. Was sie einander mitteilen, kann ich nicht verstehen, es sind kurze, abgehackte Worte, übertönt vom Knurren und Heulen der Wölfe.
    Wieder das Sirren. Ein Schlag, ein dumpfer Aufprall.
    Ein toter Wolf, vermute ich.
    Aureljo und die anderen sind in den Hauptraum zurückgekehrt, Tomma mit den Fellstiefeln an den Füßen. Die Härte, die sie eben noch zur Schau getragen hat, ist aus ihrem Gesicht verschwunden, sie hält sich hinter Aureljo und Fleming, leicht geduckt.
    Tycho hat seine Zähne tief in die Unterlippe gegraben, seine Hände sind zu Fäusten geballt. Er sieht aus, als würde er sofort losstürmen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Er ist der Schnellste von uns, er wäre dumm, diesen Vorteil nicht zu nutzen.
    Die Stimmen vor dem Haus werden zahlreicher und erstmals kann ich etwas verstehen, zwei Worte, sehr bestimmt ausgesprochen: »Meine Felle.«
    Jemand lacht, es klingt rau, unbeherrscht und angriffslustig, und damit ist für mich alles klar. Die Sentinel sind nicht zurückgekehrt. Vor unserem Versteck sammelt sich eine Horde Prims.
    Vielleicht ist das ein Glücksfall, sage ich mir. Sie jagen Wölfe. Der Felle wegen. Kann sein, dass sie das alte Haus gar nicht beachten. Dass sie nur die getöteten Tiere nehmen und wieder verschwinden.
    Vom Wolfsrudel ist nichts mehr zu hören. Wenn es nicht völlig ausgerottet wurde, haben die Überlebenden sich wohl davongemacht – das ist großartig. Wir haben eine Chance. Wenn wir uns jetzt ruhig verhalten, wenn keiner hustet oder –
    In diesem Moment wird die Tür aufgetreten.
    Die Gestalt, die den Türrahmen völlig ausfüllt, sieht aus wie ein Wolf. Ein Wolfsgott.
    Er ist in graue Felle gehüllt, graues Haar fällt ihm bis weit über die Schultern. In seiner rechten Hand trägt er eine Waffe mit rund geschliffener Klinge, in der linken eine dicke, lange Lederpeitsche.
    Er lächelt. Nichts in seinem Gesicht verrät Überraschung darüber, uns hier zu finden – natürlich nicht. Er muss unsere Spuren zwischen denen der Wölfe entdeckt haben.
    Unwillkürlich sind wir alle zurückgewichen, bis auf Aureljo, der sich um Haltung bemüht, und Dantorian, der vor Schreck erstarrt am Boden liegt.
    »Sandor!«, brüllt der Wolfsgott. »Feindclan!«
    Ich weiß nicht, was Sandor bedeutet, aber die Worte Feind und Clan ergeben Sinn, wenn auch keinen guten.
    Ich versuche, das Beben zu unterdrücken, das von meinem Körper Besitz ergreifen will. Noch nie war ich einem Prim so nah; die Gefangenen in unserer Sphäre waren nur Schatten, die in Kellerräume gezerrt wurden.
    Dieser Prim hier ist mehr als ein Schatten, er ist ein dampfender, fellbehangener Riese, schlimmer als alles, was wir uns als Kinder in der Wärme unserer Betten ausgemalt haben.
    Angst macht schwach, wiederhole ich eine von Graukos Lektionen. Glaubhaft ist nur, wer stark wirkt.
    Stark. Ich straffe meinen Rücken. Kopf hoch, ruhiger Blick, entspannte Züge. Ich habe es so oft trainiert und zu meiner eigenen Überraschung funktioniert es auch jetzt, und zwar in doppelter Hinsicht. Meine Körperhaltung beruhigt mich so weit, dass ich es schaffe, mich auf den riesigen Prim

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