Die verschollene Karawane
erhalten bleiben. In diesem Buch finden sich Schilderungen über Mirakel, die Menschen in ihrer Einfalt nicht verstehen können. Das andere Buch ist eine Abschrift des Berichtes über die Herkunft der salomonischen Kaiser von Äthiopien. Nur Auserwählte dürfen es in die Hand nehmen und es lesen. In diesem Kebra Nagast, dem Ruhm der Könige, wird berichtet, wie die Königin von Saba König Salomon traf und wie die Bundeslade mit Menelik I. nach Äthiopien gelangte. Was darin geschrieben steht, Peter, ist 700 Jahre alt. Es ist die Wahrheit, so wie wir Äthiopier sie sehen und immer sehen werden.«
Der Alte schob ihm das schwere Buch zu. Ehrfürchtig blätterte Peter in den Ziegeniederseiten. Sowohl die handbemalten Bilder als auch die Texte waren in einem ungewöhnlich guten Zustand. Neben biblischen Szenen waren Furcht erregende Tiere, Menschen ohne Kopf, aber mit einem Auge in der Brust, Einhörner, grüne Löwen, Amazonen, Feuer speiende Drachen und andere Fabelwesen abgebildet. Laut des Briefes des Priesterkönigs Johannes mussten das Abbilder jener Wesen sein, die angeblich in seinem Reich gelebt hatten. Peters Herz pochte immer schneller. Solch ein wundervolles Buch hatte er noch nie in seinem Leben anfassen dürfen. Von welchen Wundern darin wohl die Rede war? Vielleicht waren es keine Wunder, sondern reale Geschehnisse, die damals nur über den Verstand der Menschen gegangen waren. So, wie die fantastischen Schilderungen des Priesterkönigs Johannes.
Dankend schob Peter das Buch zurück. Er überlegte, um den richtigen Ansatz zu finden. Was sollte er dem Greis sagen? Es war schwierig, die höchst komplexen Fakten, Vermutungen, Legenden und Mythen in der Kürze der Zeit zu vermitteln. Er entschied sich für eine direkte Frage: »Hat er schon mal was von einem Priesterkönig, einem Presbyter Johannes gehört?«
Der Mönch lauschte den Worten Seyoums. Die Antwort kam unerwartet schnell. »Mein Sohn, ich dachte, du willst mit meiner Hilfe nach Wahrheiten forschen, die noch keiner kennt? Johannes? Das ist kein Mirakel, kein Geheimnis! Dort drüben in der Kirche markiert eine Steinplatte ein Grab. Es ist die Gruft jenes Mannes, der im Jahre 1350 von Shoa kam, um hier am Tanasee die Lehre Gottes zu verbreiten. Dieser Mann hieß Abba Za-Johannes! Abba bedeutet in der amharischen Sprache ›Vater‹ oder auch ›Ältester‹. Du musst wissen, Alter ist bei uns gleichbedeutend mit Weisheit. Alle geistlichen Würdenträger unserer Kirche werden so genannt. Dieser Beiname wurde auch von Kaisern verwendet. Der Begriff ›Presbyter‹ kommt ja aus dem Griechischen. Es bedeutet ›Bevollmächtigter‹, ›Ältester‹ – so wie ›Abba‹. Sprichst du also von dem Johannes, der hier bei uns begraben liegt? Er war ein Heiliger, ein Mann Gottes.«
Peter geriet außer Fassung. Und er schämte sich auch ein wenig. Er hatte diesen Mönch unterschätzt. Nun signalisierte dieser so vermeintlich einfältige Mönch, dass er sogar der griechischen Sprache mächtig war. Aber konnte das sein? War all das, was für ihn und viele Wissenschaftler ein Mythos war, für die Menschen hier faktischer Bestandteil ihrer Geschichte? Nein, unmöglich. Oder?
»Ich denke, wir reden über einen anderen Johannes. Der Mythos vom Presbyter Johannes entstand fast 200 Jahre, bevor euer Johannes hierherkam. Damals erzählte ein indischer Patriarch namens Johannes am päpstlichen Hof von Kalixt II. von seinem mächtigen Christenreich. Wenige Jahre später berichtete der deutsche Bischof Otto von Freising von einem gewissen Johannes, einem König und Priester in Personalunion, der angeblich plante, Jerusalem von den Arabern zu befreien. Also gab es diesen Presbyter Johannes schon lange, bevor der Abba Za-Johannes hier aufgetaucht ist.«
Bevor er weitersprechen konnte, unterbrach der Abt ihn: »Ihr Menschen aus dem fernen Europa seid seltsame Geschöpfe. Bei euch muss alles einen Namen haben. Wundersame Geschehnisse verseht ihr mit Zahlen. Ist es wirklich so wichtig zu wissen, wann etwas geschah? Oder ist es nicht bedeutsamer zu sehen, dass es geschah – und warum?«
Der Alte wies mit seiner Hand durch die Tür nach draußen. »Schau mal, dieser Baum neben unserer Kirche. Er ist wunderschön und mehrere hundert Jahre alt. Er spendet köstliche Früchte und herrlichen Schatten. Es ist ein Baum. Er ist länger hier als ich und wird wohl auch noch meinem Nachfolger Schatten spenden. Warum muss ich seinen Namen, sein Alter kennen? Aber warte, in Kenntnis
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