Die verschollene Karawane
Auf dem gestampften Lehmfußboden lagen Bastmatten und Teppiche. Der Greis fingerte aus einem der Eisenregale ein monströses Silberkreuz hervor, drückte es gegen seine Lippen, bekreuzigte sich mehrmals und murmelte mystisch klingende Worte.
Respektvoll ging Peter in die Hocke. Seyoum ließ sich neben ihm nieder. Auch seine Augen glänzten. Sie lachten sich an. Ihre Augen tasteten den Raum ab. An den Wänden standen grob gezimmerte Vitrinen neben schnöden Eisenregalen. Sie waren beladen mit überdimensionalen Büchern, schweren Folianten und ledernen Prachtbänden. Dazwischen standen liturgische Gefäße. Einige von ihnen schienen aus Asien, vielleicht aus Indien zu sein. Peter zitterte vor Aufregung. Indien! Auch dort hatte man das legendäre Reich des Priesterkönigs Johannes gesucht. Viele Details in dem Brief des Priesterkönigs hatten Rückschlüsse auf Indien zugelassen. Vielleicht waren diese Gefäße Indizien dafür, dass es zwischen dem indischen Kontinent und Äthiopien Kontakt unter christlichen Brüdern gegeben hatte. Wer weiß, eventuell war der Priesterkönig wirklich so einflussreich gewesen, dass seine Macht über Kontinente hinweg gereicht hatte. Denkbar wäre auch, dass er so mächtig gewesen war, dass es die Vorstellungskraft der Menschen im Abendland schlichtweg überfordert hatte. Aufgewühlt durchsuchte Peter einige der Dokumente, die er mitgebracht hatte. Er fand den Brief, den Charles ihm hatte zukommen lassen. Da stand es: 72 Könige waren ihm tributpflichtig gewesen. Sein Reich erstreckte sich über die drei Indien, durch die Wüste bis zum Aufgang der Sonne. Wenn das eine Indien nachweislich das heutige Äthiopien gewesen war, dann ließ diese Beschreibung den Schluss zu, dass sich das Reich des Priesterkönigs von Nordostafrika bis ins heutige Indien erstreckte. Eine geradezu unvorstellbare These! Das Unvorstellbare war jedoch bei vielen Legenden der Schlüssel zur Wahrheit.
Peter stellte sich die Frage, wie er dem Mönch all diese verwirrenden Informationen in verständlicher Form vermitteln sollte. Dessen Weltbild, das stand zu vermuten, war geprägt von den Dingen, die er hier, auf dieser abgeschiedenen Insel, erlebt und gehört hatte. Die Insel war sein Kosmos. So weise dieser Greis auch sein mochte, er würde kaum mit den geografischen und politischen Gegebenheiten der Welt zwischen dem zwölften und dem 14. Jahrhundert vertraut sein. Die einzigartige Aura ließ Peter erschauern. Er roch, spürte, sog das Geheimnisvolle dieses Kämmerleins mit seinen Stapeln uralter Bücher in sich auf.
Der Abt schloss eine der Vitrinen auf. Das erste, armdicke Buch, nach dem er griff, war so schwer, dass er es kaum halten konnte. Der zweite Prachtband trieb Peter beinahe Freudentränen in die Augen. Es war ein wunderschönes Buch, gebunden in scharlachrotem Leder, mit farbenprächtigen Zeichnungen auf dem Einband. Auch dieses Buch war so schwer, dass der Mönch es nur mit großer Anstrengung tragen konnte. Der Alte setzte sich mühsam auf den Boden, tastete mit seinen Fingern liebevoll über die beiden Lederbände auf seinen Knien und orakelte: »Wer suchet, was es vielleicht nie gegeben hat, findet manchmal Dinge, von denen andere nicht wollen, dass es sie gab. Manchmal kommen so Wahrheiten ans Licht, die niemand wissen will. Was also sucht ihr? Welche Wahrheiten wollt ihr diesen alten Büchern entlocken? Wem nutzt diese Wahrheit?«
Seyoum schaute Peter an. »Peter, nur du bist mit den Einzelheiten vertraut. Also ist es besser, wenn du dem ehrwürdigen Abt die Zusammenhänge erklärst und die Fragen stellst. Ich werde weiterhin übersetzen. Und wir werden uneingeschränktes Vertrauen zu ihm haben müssen. Diese jahrhundertealten Bücher sind ausnahmslos in der altäthiopischen Schrift Ge’ez geschrieben. Nur wenige Menschen können sie lesen, sie deuten. Was er sagt, wird für uns die Wahrheit sein müssen. Ob es stimmt, werden Jahzara und du später oder vielleicht auch nie herausfinden.«
Peter konnte nicht widerstehen. Ohne auf Seyoums Worte einzugehen, fragte er: »Darf ich die Bücher mal in die Hand nehmen? Sie sind wunderbar. Ich liebe alte Bücher!«
Seyoum übersetzte. Der Mönch zauderte, murmelte etwas und tat sehr ernst. »Ja, Peter, das eine Buch darfst du berühren. Nur das eine! Es ist das Mashafa Mestir – das Buch der Wunder. Es wurde vor vielen hundert Jahren auf Ziegenleder geschrieben und mit Farben ausgemalt, die Mutter Natur uns gegeben hat, auf das sie ewiglich
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