Die verschollene Karawane
wahrscheinlich der mystische Priesterkönig Johannes benannt worden war, von dem auch in dem Buch, das Charles ihr über den blinden Gitarristen hatte zukommen lassen, so viel geschrieben stand. Sogar ein angeblicher Brief dieses Priesterkönigs aus der Zeit von Papst Eugen III. war darin abgebildet. Es war ein ungewöhnlich langes, vor Selbstbewusstsein, mithin vor Arroganz strotzendes Schreiben, das mit den Worten begann: »An alle christlichen Herrscher, insbesondere an Kaiser Friedrich I.« Ein Antwortschreiben von Papst Alexander III. aus dem Jahre 1177 war auch abgebildet, gerichtet an »Johannes, erhabener und herrlicher König«. Alles in diesem Buch über die geheimnisvollen und spektakulären Geschehnisse im mittelalterlichen Äthiopien war sensationell.
Sie erinnerte sich noch an die ersten Zeilen: »Ich habe geschrieben, dass vor geraumer Zeit, als Eugen III. auf dem Stuhl Petri saß, der syrische Bischof Hugo von Gabala, der mit einer armenischen Gesandtschaft zu Besuch beim Papst war, ihm erzählte, dass es in der Nähe des Irdischen Paradieses das Reich eines Priesterkönigs gab, des so genannten Presbyters Johannes, der ein christlicher König sei, wenn auch ein Anhänger der nestorianischen Häresie, und dessen Vorfahren jene Magier aus dem Morgenlande gewesen seien, Priesterkönige auch sie, aber Inhaber einer uralten Weisheit, die das Jesuskind an der Krippe besucht hatten.«
Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Vor ihr an der Wand hing eine Karte, die beinahe identisch war mit der in jenem Buch. Vor ihr hing der Beweis, zumindest ein Indiz. Alles, was ihr alter Freund erzählt hatte, stimmte.
Jahzara spürte, wie Tränen der Freude über ihre Wangen rannen. Ihre Dissertation würde weltweit für Furore sorgen. Die Medien würden sie hofieren. Ihr Professor, die Universität von Lissabon würden sie in höchsten Tönen loben. Und in ihrer äthiopischen Heimat würde das, was sie nun beweisen konnte, für Sonderausgaben der Zeitungen und für stundenlange Fernsehberichte sorgen. Sie, Jahzara Jan-Zela, würde berühmt werden. Weltberühmt. Im Vatikan würde es gewaltige Turbulenzen geben. Papst Benedikt XVI. würde nicht umhinkommen, die Mitschuld der römisch-katholischen Kirche am Tod und an der Versklavung vieler christlicher Glaubensbrüder durch die Araber in Nordostafrika einzugestehen. Menschen, die der Machtgier der römisch-katholischen Kirche zum Opfer gefallen waren. Wenn sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit ginge, würde sich der Papst dafür entschuldigen müssen, dass seine Vorgänger dieses einst so mächtige Christenreich am Horn von Afrika dem Untergang geweiht hatten. Sie, Jahzara Jan-Zela, aus einem kleinen Dorf am Tanasee, würde den Christen Äthiopiens nach 600 Jahren die Genugtuung zukommen lassen, die ihnen zustand.
»Salam aleikum!« Die arabischen Worte aus dem Munde eines Mannes rissen sie aus ihren Träumen, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Paralysiert verharrte sie in der leicht gebückten Stellung. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. In der Glasscheibe vor ihr spiegelte sich ein schlanker Mann. Er stand dicht hinter ihr. Sie fühlte seinen Atem in ihrem Nacken. Der Mann trug ein blaues Hemd. So wie der Araber, den sie auf dem Vaporetto gesehen hatte.
Commissario Franco Toscanelli tobte. Keiner seiner venezianischen Kollegen hatte ihn je zuvor derart aufgebracht gesehen. Wutschnaubend rannte er im Raum hin und her. Sein Assistent blickte betroffen aus dem Fenster auf den Innenhof des Polizeipräsidiums. Der Einsatzleiter der Spezialeinheit, Gianfranco Telleddu, schluckte verlegen.
»Habe ich es hier mit Anfängern, mit Idioten zu tun, verdammt noch mal? Das kann doch nicht wahr sein! Was, glaubt ihr, geschieht, wenn das an die Presse durchsickert, hm? Tolle Titelseiten werden das: ›Venezianische Spezialeinheit lässt Mörder von zwei Priestern entkommen!‹. Toll, wirklich toll«, echauffierte sich der Kommissar, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zwang sich zur Ruhe. »Wie konnte das nur passieren, Gianfranco?«
Der Einsatzleiter kratzte sich verlegen im Nacken. »Es war eine fatale Aneinanderreihung unglücklicher Umstände, Commissario! Die Statur war ähnlich, die Kleidung -Jeans und ein blaues Hemd – nahezu identisch. Die Festnahme erfolgte außerdem nur wenige hundert Meter entfernt von der Haltestelle, nach der sich der Täter bei der Fahrkartenkontrolleurin auf der Rückfahrt vom Tatort nach Venedig erkundigt hatte. Das
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