Die verschollene Karawane
Berufserfahrung, um zu erkennen, dass es zwischen diesen beiden Menschen eine unsichtbare, imaginäre, nur intuitiv spürbare Verbindung gab. Man sah es in den Augen des Mannes. Der Mann kannte die Frau. Er sah die Afrikanerin nicht direkt an. Und doch beobachtete er sie. So wie ein Täter, der sein Opfer nicht spüren lassen möchte, dass er es beobachtet. Es war ein Blick, etwas, was auf keiner Polizeiakademie gelehrt wurde, weil es nicht gelehrt werden kann. Und über eins war sich Commissario Toscanelli im Klaren: Dieser Mann war nicht zufällig auf dem Boot gewesen. Er war der Verfolger, der Jäger. Vielleicht war er der Mörder. War die Frau sein nächstes Opfer?
»Signore Föllmer, Sie werden verstehen, dass wir diese Fotos unbedingt als Beweismittel einbehalten müssen. Vieles spricht tatsächlich dafür, dass Sie einen Täter fotografiert haben, den wir als extrem gefährlich und brutal einschätzen. Vielleicht ist er sogar noch in der Stadt. Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, welcher Nationalität dieser Mann auf dem Foto sein könnte. Seine Physiognomie ist ungewöhnlich, erschwert eine deutliche Einordnung. Aber genau das würde uns bei einer Fahndung sehr helfen. Wenn wir wüssten, woher dieser Mann kommt, wüssten wir wahrscheinlich auch, wohin er fliehen wird. Oder bereits geflohen ist.«
Peter wagte immer noch nicht, seine Freundin direkt anzuschauen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie sie mit gesenktem Kopf den Gesprächen lauschte. Er wusste, in welch dumpfe Gedankenwelt sie bereits abgetaucht war. Und er ahnte, dass diese Angelegenheit noch ein Nachspiel haben würde.
»Ich denke, ich weiß, woher dieser Mann auf dem Foto kommt.«
Die Worte von Peter ließen den Commissario herumwirbeln. »Woher?«
»Es ist wahrscheinlich ein Fellache aus Ägypten. Die meisten Fellachen sind Bauern. Eventuell stammt er vom oberen Nil. Dort haben sich, vereinfacht ausgedrückt, über die Jahrtausende altägyptische und arabische Ethnien mit schwarzhäutigen Menschen aus dem so genannten Nubien vermischt. Die Nubier sind sehr schwarzhäutig, meistens sehr groß. Der Mann dort hat zwar arabische und auch einige für Ägypter typische Gesichtszüge, aber auch afrikanische. Und er hat ein Zeichen auf seiner Stirn.« Peter flüsterte fast, als er weiter sprach: »Er hat ein Kreuz eintätowiert. Ein koptisches Kreuz. Der Mann auf diesem Foto scheint Christ zu sein. Ein koptischer Christ. Und wenn Sie sich jetzt mal das Foto der Frau genau anschauen, Commissario, erkennen Sie, dass sie eine goldene Kette mit einem orthodoxen Kreuz trägt. Solche Kreuze sehen Sie oft in Äthiopien. Sie ähneln den Kreuzen der Kopten. Was immer diese beiden sonst noch verbindet: Beide sind offensichtlich orthodoxe Christen. Ein seltsamer Zufall, oder?«
Commissario Toscanelli machte keinen Hehl aus seiner Hochachtung für ihn. »Ich bin begeistert, Signore Föllmer. Woher wissen Sie das alles?«
»Ich kenne mich in Afrika recht gut aus«, antwortete Peter leise. Seine Gedanken waren längst woanders. Es fiel ihm schwer, unbedarft zu klingen: »Sagen Sie, Commissario, um was geht es hier eigentlich wirklich? Was ist geschehen? Was hat dieser Mann mit dem blauen Hemd getan – wenn er es denn war?«
Commissario Toscanelli entschied sich, mit offenen Karten zu spielen. Seine Intuition sagte ihm, dass dieser Peter Föllmer ihm noch hilfreich sein konnte. »Wenn dieser Mann auf dem Foto wirklich der Mann ist, den wir mit einem Großaufgebot an Polizisten seit gestern suchen, Signore Föllmer, dann ist es ein sehr gefährlicher Täter. Wahrscheinlich hat er zwei Männer getötet oder war maßgeblich an ihrem Tod beteiligt. Es waren zwei Mönche. Einer stammt aus dem Kloster San Francesco del Deserto, draußen in der Lagune vor Venedig. Und der andere war ein ehemaliger Mönch aus demselben Kloster. Beide wurden gestern umgebracht beziehungsweise starben eines unnatürlichen Todes. Einer von den beiden lebte zuletzt in Ägypten. Wir fanden in seinem Mund ein Blatt Papier, eine mysteriöse Karte, an der er elendiglich erstickt ist. Es ist ein sehr ungewöhnliches Dokument. Unsere Kriminaltechniker und Spezialisten tun sich schwer, diese Karte einzuordnen. Scheint nur wirres Zeug zu sein. So wie es aussieht, wird der Tote sein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Offensichtlich war er aber bereit, für dieses Geheimnis zu sterben. Das Einzige, was ich im Moment mit Sicherheit weiß, ist, dass diese hübsche Afrikanerin ebenfalls in sehr großer
Weitere Kostenlose Bücher