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Die verschollene Karawane

Titel: Die verschollene Karawane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ackermann
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gegen das Geländer. Er hörte gerade noch, wie eine männliche Stimme auf Italienisch rief: »Wir haben ihn – lebend.«

4.
     
    J ahzara Jan-Zela stockte der Atem. Sie konnte nicht glauben, was sie da in der Zeitung entdeckt hatte. Ostentativ starrte sie hinaus auf die Lagune. Das Boot passierte soeben die Friedhofsinsel Cimitero di San Michele, nur wenige Fahrminuten von Venedigs Altstadt entfernt. Sie hatte gelesen, dass auf diesem so wunderschön in der Lagune gelegenen Idyll berühmte Menschen wie der Dichter Esra Pound und der Komponist Igor Strawinsky ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Und von ihrem Bekannten wusste sie, dass auch der berühmte Mönch und Kartograf Fra Mauro einst auf der Insel in einem Kloster gelebt hatte. Für sie war es der schönste Friedhof, den sie jemals gesehen hatte. Das waren ihre letzten Gedanken gewesen, bevor ihr Blick auf dem Titelbild einer italienischen Zeitung haften geblieben war, die neben ihr auf der Bank lag. Sie verstand die in großen roten Lettern gedruckte Bildüberschrift nicht, aber sie kannte den Mann, der dort abgebildet war. Seitdem raste ihr Puls.
    Abermals schaute sie auf die Lagune, schielte erneut nach der Zeitung, drehte sich abrupt um und ließ ihren Blick über die Menschenmasse auf dem Vaporetto wandern. Panisch fixierte sie ein männliches Gesicht nach dem anderen. Nein, der Mann war nicht auf dem Boot! Vielleicht versteckte er sich irgendwo vorne bei der Kajüte des Kapitäns? Oder hatte sie sich getäuscht? Bildete sie sich nur ein, dass sie ihn gesehen hatte, diesen Mann mit dem blauen Hemd und den Jeans? Verfolgte er sie? Nervös fuhr sie mit den Händen durch ihr langes Haar, sträubte sich dagegen, wieder auf die Zeitung zu schauen. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie wollte, konnte es nicht glauben. Trotzdem prangte das Antlitz des Toten auf der Titelseite: aschfahl, gequält. Und doch hatte sein Gesicht nicht jene Güte verloren, die ihn so ausgezeichnet hatte. Jahzara wusste nicht, was sie tun sollte. Schreien vor Schmerz? Weinen, weil dieser alte Mann, den sie erst vor wenigen Wochen noch gesehen und gesprochen hatte, nun tot, offensichtlich ermordet worden war? Ermordet, kurz bevor sie ihn besuchen konnte! Ja, sie war auf dem Weg zu Charles. Den ganzen Morgen hatte sie sich maßlos darauf gefreut, den alten Mann wiederzusehen.
    Vor zwei Jahren hatten sie sich in Kairo zum ersten Mal getroffen hatten, zusammen mit ihrem Vater, der den ehemaligen Mönch viele Jahren zuvor kennen gelernt hatte. Ihr Vater war es auch gewesen, der ihr empfohlen hatte, sich mit Charles in Verbindung zu setzen. »Der alte Mönch wird dir sicherlich sehr behilflich sein können bei deiner Dissertation«, hatte ihr Vater gesagt. Und so war der Kontakt zu Charles Bahri entstanden, dem ehemaligen Franziskanermönch, der so unglaublich viel Aufregendes wusste über die Geschichte des Christentums in Äthiopien und der sich sofort bereiterklärt hatte, ihr bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu helfen. Über zwei Jahre hinweg hatten sie einen sehr gedeihlichen und warmherzigen Kontakt gepflegt. Charles war ein Grandseigneur. Sein Charme war umwerfend. Seine kleinen Augen funkelten stets verschmitzt. Und er war ein wandelndes Lexikon in Sachen Afrika. Schon bald hatte er ihr Dokumente und Bücher gegeben, die ihr die Sprache verschlagen hatten.
    »Mein Kind«, hatte er mal gesagt, »ich möchte, dass die Öffentlichkeit erfährt, was das päpstliche Rom unseren christlichen Mitbrüdern in Afrika im Zeichen und Namen Christi angetan hat. Die Welt soll erfahren, dass die Stellvertreter Gottes auf Erden nicht ohne Makel, nicht ohne menschliche Schwächen sind. Ja, das möchte ich. Und ich will, dass du, eine Afrikanerin, dies der Welt zur Kenntnis bringst. Denn mir, einem verstoßenen Mönch, wird man nicht glauben. Rachegelüste und von Hass geprägtes Gedankengut würde man mir unterstellen.«
    Das war vor wenigen Wochen in Kairo gewesen. In der Folgezeit waren ihr geheimnisvolle Päckchen mit unbekanntem Absender zugestellt worden. Päckchen, um deren Inhalt sie jeder Historiker, jeder Religionswissenschaftler beneidet hätte: jahrhundertealte Dokumente in lateinischer, portugiesischer und spanischer Sprache. Aber auch Dokumente in der altäthiopischen Sprache Ge’ez. Auf keiner dieser mysteriösen Postsendungen stand der Name von Charles Bahri als Absender darauf. Doch sie war sich sicher, dass sie von ihm stammten. Denn jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen, stellte er

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