Die verschollene Karawane
Der Lärm der Touristenscharen, die sich beim Anlegen des Bootes nahe der Piazza San Marco an Deck drängten, hatte das Hämmern in ihrem Kopf verstärkt. Die frühe Nachmittagssonne hatte in ihrem Nacken gebrannt, und ihr war übel geworden.
Nun beim Verlassen des Bootes musste sie sich am Geländer des Stegs festhalten. Wohl zum hundertsten Mal suchte sie die Menschenmassen nach dem Mann mit den arabischen Gesichtszügen ab. Aber ihr Blick war verschwommen. Leicht schwankend ging sie rechts am Kai entlang über eine weiße Sandsteinbrücke auf ein neuzeitliches Ziegelbauwerk zu. Die Fassade des fünfstöckigen Gebäudes war mit Plastikplanen verhüllt. Handwerker trugen Zementsäcke umher. Erleichtert betrat sie die herrlich kühlen Räume des Museums, in dem die Geschichte Venedigs als seefahrende Weltmacht präsentiert war. Dem Reiseführer war zu entnehmen, dass hier neben Modellen von Kriegs- und Handelsschiffen auch die Bucintoro stand, die Prunkbarke, auf der der Doge in den Blütezeiten Venedigs einmal im Jahr die rituelle Vermählung mit dem Meer vollzog. Jahzara fühlte sich jedoch zu schwach, war zu angespannt, um auch nur einen schnellen Blick auf diese zeitgeschichtlich so bedeutsamen Ausstellungsstücke zu werfen. Sie wusste, wonach sie suchen musste, allerdings nicht genau, wo.
Doch schon im ersten Raum in der ersten Etage spürte sie, dass sie hier richtig war. Ein monströser, wunderschön handbemalter Holzglobus von Vincenzo Coronelli aus dem 17. Jahrhundert ließ ihr Herz schneller schlagen. Ja, hier war sie richtig! Überall hingen mittelalterliche nautische Karten von Europa und Nordafrika an den Wänden. In den Vitrinen waren prächtige, handkolorierte Sphärenkarten ausgestellt.
Ihr Blick huschte über ein Türschild. Das Büro des Museumsdirektors! Ein Mann saß hinter einem Schreibtisch. Zigarettenqualm nebelte ihn ein. Sein strähniges, dunkles Haar schimmerte im Gegenlicht des Fensters. Ihr Herz schlug schneller. Er war da! Was für ein Glück! Sie überflog eine Tafel neben der Tür des Direktors. Es war ein Dekret des Magistrats von Venedig aus dem 16. Jahrhundert: »Die Stadt der Venezianer von edler Herkunft, gegründet in den Gewässern, geschützt von ihnen selbst, ist behütet durch eine Mauer aus Wasser. Wer immer es wagt, aus welchen Gründen auch immer versucht, den Gewässern Schaden zuzufügen, wird als Staatsfeind gesehen.«
Blitzschnell wanderte ihr Blick nochmals zu dem Mann hinter dem Schreibtisch. Was sollte sie ihm sagen? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm Grüße von Charles ausrichtete? Wusste er bereits, dass Charles tot war? Würde er ihr Zeit widmen, ihr das erzählen, was sie wissen wollte? Verunsichert ging sie weiter. Niemand sonst war in der ersten Etage anwesend. Die Ruhe in den Ausstellungsräumen entspannte sie. Dann sah sie es: Schon von Weitem erkannte sie die große, in satten Farben handkolorierte Portelan-Karte an der Wand. Sie war wunderschön. Die Jahrhunderte hatten ihr eine fast mystische Brillanz angedeihen lassen. Ehrfurchtsvoll blieb sie vor der Karte stehen. Sie betrachtete den Kupferdruck, fixierte Details, bis sie das Kreuz mit den zwölf Ecken, die an die zwölf Apostel erinnern sollen, fand. Jenes Kreuz, das seit dem ersten Jahrhundert nach Christus mit dem heiligen Evangelisten und Märtyrer Markus von Ägypten aus einen Siegeszug des Glaubens durch das nordöstliche Afrika feierte – bis die Päpste der römisch-katholischen Kirche ihren Bannstrahl gen Afrika und Konstantinopel schleuderten und die Christen Äthiopiens als Häretiker abstempelten.
Jahzara war aufgewühlt. Sie atmete schnell und laut. Aus ihrem Studium der Religionswissenschaften wusste sie nur zu gut, dass die Päpste Roms alles in ihrer Macht Stehende versucht hatten, sich die abtrünnigen so genannten Ostkirchen Untertan zu machen, sie zu isolieren, sie in die Bedeutungslosigkeit zu verbannen oder sie zu vernichten.
Fasziniert starrte sie auf das Kreuz. Es war südlich von Ägypten, nahe dem Horn von Afrika eingezeichnet. Ihr Herz schlug schneller. Sie beugte sich noch näher an die Karte heran. Die Konturen Afrikas schienen vor ihren Augen zu verschwimmen. Schließlich entdeckte sie die vier Symbole der Evangelisten neben dem Kreuz, von Meisterhand in Kupfer gestochen, klein, in zartem Braun koloriert. Ein Engel für Matthäus, der Löwe für Markus, ein Stier für Lukas und… ja, da war er, der Adler! Sein Symbol, Johannes’ Symbol! Der Evangelist, nach dem
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